Das Werk besteht aus 81 Kapiteln, die die grundlegenden Prinzipien des Taoismus enthalten. Diese deutsche Übersetzung vermittelt die tiefe Weisheit von Laozis Lehren:
- Die Natur des Tao als unbenennbar und formlos
- Das Prinzip des Wu Wei (Nicht-Handeln)
- Die Kraft der Stille und der Leere
- Die Bedeutung von Einfachheit und Bescheidenheit
- Die Idee, dass das Weiche und Nachgiebige das Harte und Starke überwinden kann
- Die Harmonie der Gegensätze
Dieses Werk hat über Jahrtausende hinweg nicht nur die chinesische Philosophie geprägt, sondern auch weltweit Menschen inspiriert. Die paradoxen und poetischen Lehren laden zum Nachdenken ein und bieten eine alternative Perspektive auf Führung, Macht, Erfolg und persönliche Entwicklung.
Vorwort
Was wir von dem Verfasser der vorliegenden Aphorismensammlung historisch Beglaubigtes wissen, geht sehr eng zusammen. Es ist so wenig, daß die Kritik vielfach gar nichts mehr davon bemerkte und ihm samt seinem Werk im Gebiet der Mythenbildung den Platz anwies. Der Name Laotse, unter dem er in Europa bekannt ist, ist gar kein Eigenname, sondern ein Appellativum und wird am besten übersetzt mit »der Alte«. Laotse stammt wohl aus der heutigen Provinz Honan, der südlichsten der sogenannten Nordprovinzen, und mag wohl ein halbes Jahrhundert älter gewesen sein als Kung (Konfuzius), so daß seine Geburt auf das Ende des 7. vorchristlichen Jahrhunderts fällt. Im Lauf der Zeit hatte er am kaiserlichen Hof, der damals in Loyang (in der heutigen Provinz Honan) war, ein Amt als Archivar bekleidet.
Als die öffentlichen Zustände sich so verschlimmerten, daß keine Aussicht auf die Herstellung der Ordnung mehr vorhanden war, soll Laotse sich zurückgezogen haben. Als er an den Grenzpaß Han Gu gekommen sei, nach späterer Tradition auf einem schwarzen Ochsen reitend, habe ihn der Grenzbeamte Yin Hi gebeten, ihm etwas Schriftliches zu hinterlassen. Darauf habe er den Tao te king, bestehend aus mehr als 5000 chinesischen Zeichen, niedergeschrieben und ihm übergeben. Dann sei er nach Westen gegangen, kein Mensch weiß wohin.
Daß auch an diese Erzählung sich die Sage geknüpft hat, die Laotse nach Indien führte und dort mit dem Buddha in Berührung kommen ließ, ist verständlich. Irgendeine persönliche Berührung zwischen Laotse und Buddha ist jedoch vollkommen ausgeschlossen. Man hat da spätere Umstände in das historische Bild zurückgetragen.
In der Han-Dynastie wenden sich mehrere Kaiser dem Studium des Tao te king zu, so besonders Han Wen Di (197-157 v. Chr.), dessen friedliche und einfache Regierungsart als direkte Frucht der Lehren des alten Weisen bezeichnet wird. Sein Sohn Han Ging Di (156-140 v. Chr.) legt endlich dem Buch die Bezeichnung »Tao te king« (Dau De Ging, d.h. »das klassische Buch vom Sinn und Leben«) bei, die es seither in China behalten hat.
Die ganze Metaphysik des Tao te king ist aufgebaut auf einer grundlegenden Intuition, die der streng begrifflichen Fixierung unzugänglich ist und die Laotse, um einen Namen zu haben, »notdürftig« mit dem Worte TAO (sprich: Dau) bezeichnet. In Beziehung auf die richtige Übersetzung dieses Wortes herrschte von Anfang an viel Meinungsverschiedenheit. »Gott«, »Weg«, »Vernunft«, »Wort« sind nur ein paar der vorgeschlagenen Übersetzungen, während ein Teil der Übersetzer einfach das »Tao« unübertragen in die europäischen Sprachen herübernimmt. Im Grunde genommen kommt auf den Ausdruck wenig an, da er ja auch für Laotse selbst nur sozusagen ein algebraisches Zeichen für etwas Unaussprechliches ist. Es sind im wesentlichen ästhetische Gründe, die es wünschenswert erscheinen lassen, in einer deutschen Übersetzung ein deutsches Wort zu haben. Es wurde von uns durchgängig das Wort Sinn gewählt. Um hier gleich die Übersetzung des immer wiederkehrenden Wortes TE (sprich: De) zu rechtfertigen, so sei bemerkt, daß die chinesische Definition desselben lautet: »Was die Wesen erhalten, um zu entstehen, heißt De.« Wir haben das Wort daher mit Leben übersetzt.
Kein einziger historischer Name ist in Laotses ganzem Büchlein genannt. Er will gar nicht in der Zeitlichkeit wirken. Darum verschwimmt er für das historisch gerichtete China in nebelhafte Fernen, da ihm niemand zu folgen vermag. Und eben das ist der Grund, warum er in Europa so große Wirkungen ausübt trotz des räumlichen und zeitlichen Abstands, der ihn von uns trennt.
Er hat für sich einen Blick getan in die großen Weltzusammenhänge und hat, was er geschaut, mühsam in Worte gebracht, es gleichgesinnten Geistern der späteren Zeit überlassend, selbständig seinen Andeutungen nachzugehen und im Weltzusammenhang selbst die Wahrheiten zu schauen, die er entdeckt. Es hat zu allen Zeiten einzelne Denker gegeben, die unter den vergänglichen Erscheinungen des menschlichen Lebens den Blick erhoben zu dem ewigen Sinn des Weltgeschehens, dessen Größe alles Denken übersteigt, und die darin Ruhe gefunden haben und Leichtigkeit, die es ihnen ermöglichte, den sogenannten Ernst des Lebens nicht mehr so gar ernst zu nehmen, weil ihm kein wesentlicher Wert an und für sich innewohnt.
Es ist ein Zeichen für die Höhe des Standpunkts von Laotse, daß er sich auf Andeutungen des Unaussprechlichen beschränkt, deren Verfolg jedem einzelnen überlassen bleiben mag.
Richard Wilhelm
Kapitel 1
Der Sinn, der sich aussprechen läßt,
ist nicht der ewige Sinn.
Der Name, der sich nennen läßt,
ist nicht der ewige Name.
»Nichtsein« nenne ich den Anfang von Himmel und Erde.
»Sein« nenne ich die Mutter der Einzelwesen.
Darum führt die Richtung auf das Nichtsein
zum Schauen des wunderbaren Wesens,
die Richtung auf das Sein
zum Schauen der räumlichen Begrenztheiten.
Beides ist eins dem Ursprung nach
und nur verschieden durch den Namen.
In seiner Einheit heißt es das Geheimnis.
Des Geheimnisses noch tieferes Geheimnis
ist das Tor, durch das alle Wunder hervortreten.
Der wahre Name aller Dinge lässt sich nicht aussprechen.
Das Nichts ist der Ursprung von Himmel und Erde.
Das Sein bringt alle einzelnen Dinge hervor.
Im Nichtsein erkennen wir das Wunderbare.
Im Sein erkennen wir die Grenzen der Dinge.
Beides kommt aus derselben Quelle, wird aber unterschiedlich genannt.
Diese Quelle ist geheimnisvoll.
Dieses tiefe Geheimnis ist das Tor zu allen Wundern.
Grundgedanke: Das wahre Wesen der Dinge lässt sich nicht vollständig in Worte fassen. Die tiefste Realität geht über Sprache und Definitionen hinaus.
Beispiel: Wenn du versuchst, jemandem zu erklären, wie sehr du deine Kinder liebst oder wie ein Sonnenuntergang dich berührt, merkst du, dass Worte nie die ganze Erfahrung erfassen können. Das wahre Erlebnis ist immer reicher als jede Beschreibung.
Kapitel 2
Wenn auf Erden alle das Schöne als schön erkennen,
so ist dadurch schon das Häßliche gesetzt.
Wenn auf Erden alle das Gute als gut erkennen,
so ist dadurch schon das Nichtgute gesetzt.
Denn Sein und Nichtsein erzeugen einander.
Schwer und Leicht vollenden einander.
Lang und Kurz gestalten einander.
Hoch und Tief verkehren einander.
Stimme und Ton sich vermählen einander.
Vorher und Nachher folgen einander.
Also auch der Berufene:
Er verweilt im Wirken ohne Handeln.
Er übt Belehrung ohne Reden.
Alle Wesen treten hervor,
und er verweigert sich ihnen nicht.
Er erzeugt und besitzt nicht.
Erwirkt und behält nicht.
Ist das Werk vollbracht,
so verharrt er nicht dabei.
Und eben weil er nicht verharrt,
bleibt er nicht verlassen.
Sobald alle Menschen etwas als schön bezeichnen, entsteht auch die Vorstellung von Hässlichkeit.
Sobald alle etwas als gut bezeichnen, entsteht auch die Vorstellung von schlecht.
Denn Gegensätze erzeugen einander: Schwer und leicht ergänzen sich.
Lang und kurz definieren sich gegenseitig.
Hoch und tief hängen voneinander ab.
Töne und Stimmen harmonieren miteinander.
Vorher und nachher folgen aufeinander.
So handelt auch der weise Mensch:
Er wirkt, ohne sich aufzudrängen.
Er lehrt, ohne viele Worte zu machen.
Er lässt alles geschehen, ohne sich einzumischen.
Er erschafft, ohne zu besitzen.
Er leistet, ohne Anerkennung zu erwarten.
Er lässt los, wenn etwas vollendet ist.
Und gerade weil er nicht festhält, verliert er nicht
Grundgedanke: Gegensätze definieren sich gegenseitig und sind voneinander abhängig. Wahre Weisheit zeigt sich im zurückhaltenden Handeln ohne Anhaftung.
Beispiel: Ein guter Manager gibt seinen Mitarbeitern die nötigen Werkzeuge und Rahmenbedingungen, tritt dann zurück und lässt sie ihre Arbeit machen. Er prahlt nicht mit Erfolgen und bleibt im Hintergrund. Solche Führungskräfte werden oft am meisten respektiert, weil sie wirken, ohne sich aufzudrängen.
Kapitel 3
Die Tüchtigen nicht bevorzugen,
so macht man, daß das Volk nicht streitet.
Kostbarkeiten nicht schätzen,
so macht man, daß das Volk nicht stiehlt.
Nichts Begehrenswertes zeigen,
so macht man, daß des Volkes Herz nicht wirr wird.
Darum regiert der Berufene also:
Er leert ihre Herzen und füllt ihren Leib.
Er schwächt ihren Willen und stärkt ihre Knochen
und macht, daß das Volk ohne Wissen
und ohne Wünsche bleibt,
und sorgt dafür,
daß jene Wissenden nicht zu handeln wagen.
Er macht das Nichtmachen,
so kommt alles in Ordnung.
Bevorzuge nicht die Erfolgreichen, dann wird es keinen Neid und Streit geben.
Schätze keine Luxusgüter, dann wird niemand stehlen.
Zeige nichts Begehrenswertes, dann bleiben die Menschen ruhig.
Darum handelt der kluge Anführer so:
Er befreit die Menschen von unnötigen Wünschen, sorgt aber für ihre Grundbedürfnisse.
Er schwächt ihren Ehrgeiz, stärkt aber ihre innere Kraft.
Er hält die Menschen von zu viel Wissen und Begehren fern und sorgt dafür, dass die Schlaumeier nicht intrigieren können.
Durch Nicht-Eingreifen kommt alles in seine natürliche Ordnung.
Grundgedanke: Wettbewerb und übermäßiges Begehren schaffen soziale Probleme. Weise Führung sorgt für Grundbedürfnisse, ohne Begierden zu wecken.
Beispiel: Eltern, die ständig die Leistungen ihrer Kinder mit anderen vergleichen oder mit teuren Geschenken protzen, schaffen Neid und Unzufriedenheit. Eltern, die stattdessen Werte wie Zusammenarbeit und Zufriedenheit fördern, schaffen ein harmonischeres Familienklima.
Kapitel 4
Der Sinn ist immer strömend.
Aber er läuft in seinem Wirken doch nie über.
Ein Abgrund ist er, wie der Ahn aller Dinge.
Er mildert ihre Schärfe.
Er löst ihre Wirrsale.
Er mäßigt ihren Glanz.
Er vereinigt sich mit ihrem Staub.
Tief ist er und doch wie wirklich.
Ich weiß nicht, wessen Sohn er ist.
Er scheint früher zu sein als Gott.
Der Lebenssinn fließt ständig,
aber tritt nie über seine Ufer.
Er ist tief wie ein Abgrund und scheint der Ursprung aller Dinge zu sein.
Er mildert Konflikte, löst Verwirrung auf, dämpft Grelles und verbindet sich mit dem Einfachsten.
Tief ist er und doch real.
Ich weiß nicht, woher er kommt.
Er scheint schon vor allem anderen da gewesen zu sein.
Grundgedanke: Der Lebenssinn ist wie eine unerschöpfliche Quelle, die alles ausgleicht und harmonisiert, ohne sich je zu erschöpfen.
Beispiel: Nach einem großen Streit mit einem Freund kann es zunächst unmöglich erscheinen, die Wogen zu glätten. Doch mit etwas Abstand und Ruhe klärt sich oft die Situation, Extreme werden abgemildert, und die Beziehung kann sogar stärker werden. Der dahinterliegende Lebenssinn wirkt ausgleichend.
Kapitel 5
Himmel und Erde sind nicht gütig.
Ihnen sind die Menschen wie stroherne Opferhunde.
Der Berufene ist nicht gütig.
Ihm sind die Menschen wie stroherne Opferhunde.
Der Zwischenraum zwischen Himmel und Erde
ist wie eine Flöte,
leer und fällt doch nicht zusammen;
bewegt kommt immer mehr daraus hervor.
Aber viele Worte erschöpfen sich daran.
Besser ist es, das Innere zu bewahren. bewahren.
Das Universum ist nicht gütig oder gefühlvoll.
Es behandelt alle Wesen wie vergängliche Dinge.
Der weise Mensch ist ebenfalls nicht sentimental.
Er behandelt die Menschen sachlich und gleichmäßig.
Der Raum zwischen Himmel und Erde ist wie eine Flöte, leer und trotzdem stabil, bewegt bringt er immer Neues hervor.
Aber zu viele Worte erschöpfen uns.
Besser ist es, innere Ruhe zu bewahren.
Grundgedanke: Das Universum handelt nicht nach menschlichen Gefühlen, sondern nach natürlichen Gesetzen. Zu viel reden erschöpft – innere Ruhe bewahren ist besser.
Beispiel: Bei einer Naturkatastrophe macht es keinen Sinn, mit dem Universum zu hadern oder endlos darüber zu diskutieren, warum es passiert ist. Praktische Hilfe und innere Ruhe bewahren sind sinnvoller als emotionale Erschöpfung.
Kapitel 6
Der Geist des Tals stirbt nicht,
das heißt das dunkle Weib.
Daß Tor des dunklen Weibs,
das heißt die Wurzel von Himmel und Erde.
Ununterbrochen wie beharrend
wirkt es ohne Mühe.
Die schöpferische Kraft versiegt nie, sie ist wie eine unerschöpfliche Quelle.
Sie ist der Ursprung von allem, die Wurzel von Himmel und Erde.
Beständig und dauernd wirkt sie mühelos.
Grundgedanke: Die schöpferische Kraft des Universums ist unerschöpflich und wirkt mühelos.
Beispiel: Die Natur produziert Jahr für Jahr Millionen von Samen, Früchten und neuen Lebewesen, ohne sich zu erschöpfen oder anzustrengen. Ein kreativer Mensch, der im „Flow“ ist, erlebt etwas Ähnliches – Ideen fließen mühelos, als kämen sie aus einer unerschöpflichen Quelle.
Kapitel 7
Der Himmel ist ewig und die Erde dauernd.
Sie sind dauernd und ewig,
weil sie nicht sich selber leben.
Deshalb können sie ewig leben.
Also auch der Berufene:
Er setzt sein Selbst hintan,
und sein Selbst kommt voran.
Er entäußert sich seines Selbst,
und sein Selbst bleibt erhalten.
Ist es nicht also:
Weil er nichts Eigenes will,
darum wird sein Eigenes vollendet?
Das Universum ist dauerhaft, weil es nicht für sich selbst existiert.
Deshalb kann es ewig bestehen.
Genauso der weise Mensch:
Er stellt sich selbst zurück, und gerade dadurch kommt er voran.
Er gibt sein Ego auf, und gerade dadurch bewahrt er sein wahres Selbst.
Ist es nicht so:
Weil er nicht egoistisch ist,
erreicht er wahre Erfüllung?
Grundgedanke: Wer sich selbst zurücknimmt und nicht egoistisch handelt, erreicht paradoxerweise mehr.
Beispiel: In einem Team kann jemand, der ständig im Mittelpunkt stehen will und alle Lorbeeren für sich beansprucht, langfristig das Vertrauen der Kollegen verlieren. Wer dagegen das Team unterstützt und den Erfolg teilt, gewinnt oft mehr Respekt und Einfluss.
Kapitel 8
Höchste Güte ist wie das Wasser.
Des Wassers Güte ist es,
allen Wesen zu nützen ohne Streit.
Es weilt an Orten, die alle Menschen verachten.
Drum steht es nahe dem Sinn.
Beim Wohnen zeigt sich die Güte an dem Platze.
Beim Denken zeigt sich die Güte in der Tiefe.
Beim Schenken zeigt sich die Güte in der Liebe.
Beim Reden zeigt sich die Güte in der Wahrheit.
Beim Walten zeigt sich die Güte in der Ordnung.
Beim Wirken zeigt sich die Güte im Können.
Beim Bewegen zeigt sich die Güte in der rechten Zeit.
Wer sich nicht selbst behauptet,
bleibt eben dadurch frei von Tadel.
Höchste Güte gleicht dem Wasser.
Wasser nützt allen Lebewesen, ohne zu kämpfen.
Es fließt an die niedrigsten Stellen, die andere meiden.
So ist es dem Sinn des Lebens nahe.
Ein guter Wohnort hat die richtige Lage.
Ein guter Geist hat Tiefe.
Gutes Geben zeigt sich in Liebe.
Gutes Reden zeigt sich in Wahrheit.
Gute Führung zeigt sich in Ordnung.
Gutes Handeln zeigt sich in Können.
Gute Bewegung zeigt sich im richtigen Timing.
Wer sich nicht aufdrängt, bleibt frei von Kritik.
Grundgedanke: Die höchste Güte gleicht dem Wasser: Sie nützt allen, ohne zu kämpfen, und sucht die niedrigsten Stellen.
Beispiel: Eine hilfsbereite Nachbarin, die ohne viel Aufhebens für kranke Anwohner einkauft, ist wie Wasser. Sie drängt sich nicht auf, macht kein großes Tam-Tam aus ihrer Hilfe, sondern ist einfach da, wo sie gebraucht wird – ohne Gegenleistung zu erwarten.
Kapitel 9
Etwas festhalten wollen und dabei es überfüllen:
das lohnt der Mühe nicht.
Etwas handhaben wollen und dabei es immer scharf halten:
das läßt sich nicht lange bewahren.
Mit Gold und Edelsteinen gefüllten Saal
kann niemand beschützen.
Reich und vornehm und dazu hochmütig sein:
das zieht von selbst das Unglück herbei.
Ist das Werk vollbracht, dann sich zurückziehen:
das ist des Himmels Sinn.
Etwas bis zum Überlaufen zu füllen ist sinnlos.
Ein ständig geschärftes Messer wird bald stumpf.
Einen Raum voller Gold und Juwelen kann niemand auf Dauer schützen.
Reich und arrogant zu sein zieht Probleme an.
Sich zurückziehen, wenn die Aufgabe erledigt ist: Das ist der natürliche Weg.
Grundgedanke: Übermäßiges Anhäufen und Festhalten führt zu Problemen. Sich zurückziehen, wenn die Arbeit getan ist, ist der natürliche Weg.
Beispiel: Jemand, der sein Leben lang nur für materiellen Reichtum arbeitet und nie genug hat, wird oft unglücklich. Wer dagegen nach einem erfolgreichen Projekt oder Arbeitstag loslassen und den Erfolg genießen kann, lebt ausgeglichener.
Kapitel 10
Kannst du deine Seele bilden, daß sie das Eine umfängt,
ohne sich zu zerstreuen?
Kannst du deine Kraft einheitlich machen
und die Weichheit erreichen,
daß du wie ein Kindlein wirst?
Kannst du dein geheimes Schauen so reinigen,
daß es frei von Flecken wird?
Kannst du die Menschen lieben und den Staat lenken,
daß du ohne Wissen bleibst?
Kannst du, wenn des Himmels Pforten
sich öffnen und schließen,
wie eine Henne sein?
Kannst du mit deiner inneren Klarheit und Reinheit
alles durchdringen, ohne des Handelns zu bedürfen?
Erzeugen und ernähren,
erzeugen und nicht besitzen,
wirken und nicht behalten,
mehren und nicht beherrschen:
das ist geheimes Leben.
Kannst du deine Aufmerksamkeit sammeln, ohne abgelenkt zu werden?
Kannst du weich und flexibel werden wie ein Kind?
Kannst du deinen Blick klären von Vorurteilen?
Kannst du führen ohne zu kontrollieren?
Kannst du dich öffnen und schließen im richtigen Moment?
Kannst du verstehen ohne ständig einzugreifen?
Erschaffen und loslassen,
wirken ohne festzuhalten,
wachsen lassen ohne zu beherrschen:
Das ist das Geheimnis des Lebens.
Grundgedanke: Wahre Meisterschaft zeigt sich in der Fähigkeit, weich und flexibel zu bleiben, klar zu sehen und ohne Kontrolle zu führen.
Beispiel: Ein erfahrener Lehrer weiß, wann er eingreifen und wann er die Schüler selbst entdecken lassen muss. Er gibt ihnen Raum zum Wachsen, bleibt aber aufmerksam und unterstützend im Hintergrund – wie ein Gärtner, der pflanzt und gießt, aber das Wachstum nicht erzwingen kann.
Kapitel 11
Dreißig Speichen umgeben eine Nabe:
In ihrem Nichts besteht des Wagens Werk.
Man höhlet Ton und bildet ihn zu Töpfen:
In ihrem Nichts besteht der Töpfe Werk.
Man gräbt Türen und Fenster, damit die Kammer werde:
In ihrem Nichts besteht der Kammer Werk.
Darum: Was ist, dient zum Besitz. Was nicht ist, dient zum Werk.
Dreißig Speichen treffen in der Radnabe zusammen:
Aber erst die Leere in der Mitte macht das Rad nützlich.
Aus Ton formt man Gefäße:
Aber erst der leere Raum darin macht sie brauchbar.
Man baut Wände mit Türen und Fenstern für ein Haus:
Aber erst die Leere darin macht es bewohnbar.
So ist das Materielle nützlich, aber das Immaterielle macht es wertvoll.
Grundgedanke: Der Nutzen vieler Dinge liegt in ihrer Leere oder ihrem nicht-materiellen Aspekt.
Beispiel: Bei einem Smartphone ist nicht nur das physische Gerät wertvoll, sondern der leere Raum – der Bildschirm – auf dem wir kommunizieren, lernen und arbeiten. Es ist die „Leere“, die das Gerät nützlich macht, nicht nur die Materialien.
Kapitel 12
Die fünferlei Farben machen der Menschen Augen blind.
Die fünferlei Töne machen der Menschen Ohren taub.
Die fünferlei Würzen machen der Menschen Gaumen schal.
Rennen und jagen machen der Menschen Herzen toll.
Seltene Güter machen der Menschen Wandel wirr.
Darum wirkt der Berufene für den Leib und nicht fürs Auge.
Er entfernt das andere und nimmt dieses.
Zu viele Farben blenden die Augen.
Zu viele Töne betäuben die Ohren.
Zu viele Gewürze verderben den Geschmack.
Zu viel Hektik macht das Herz unruhig.
Zu viel Luxus verwirrt die Werte.
Darum sorgt der weise Mensch für das Wesentliche, nicht für Überfluss.
Er wählt das Eine und lässt das Andere.
Grundgedanke: Zu viele Sinneseindrücke und Besitztümer verwirren uns. Konzentration auf das Wesentliche bringt Klarheit.
Beispiel: Jemand mit 50 Apps auf dem Handy, drei laufenden Streaming-Diensten und ständigen Benachrichtigungen fühlt sich oft überfordert. Wer dagegen bewusst reduziert – vielleicht durch regelmäßige Digital-Detox-Zeiten – gewinnt Klarheit und Fokus.
Kapitel 13
Gnade ist beschämend wie ein Schreck.
Ehre ist ein großes Übel wie die Person.
Was heißt das: »Gnade ist beschämend wie ein Schreck«?
Gnade ist etwas Minderwertiges.
Man erlangt sie und ist wie erschrocken.
Man verliert sie und ist wie erschrocken.
Das heißt: »Gnade ist beschämend wie ein Schreck«.
Was heißt das: »Ehre ist ein großes Übel wie die Person«?
Der Grund, warum ich große Übel erfahre, ist,
daß ich eine Person habe.
Habe ich keine Person,
was für Übel könnte ich dann erfahren?
Darum: Wer in seiner Person die Welt ehrt,
dem kann man wohl die Welt anvertrauen.
Wer in seiner Person die Welt liebt,
dem kann man wohl die Welt übergeben.
Gnade von oben ist beschämend wie ein erschreckender Moment.
Ehre ist problematisch wie das Ego.
Was bedeutet „Gnade ist beschämend wie ein Schreck“?
Gnade zu empfangen macht abhängig.
Sie zu bekommen oder zu verlieren macht uns ängstlich.
Was bedeutet „Ehre ist problematisch wie das Ego“?
Probleme entstehen, weil ich ein Ego habe.
Hätte ich kein Ego, welche Probleme könnte ich dann haben?
Wer sein Ego zurückstellt und der Welt dient,
dem kann man die Welt anvertrauen.
Wer die Welt mehr liebt als sich selbst,
dem kann man Verantwortung übertragen.
Grundgedanke: Sowohl Erfolg als auch Misserfolg können problematisch sein, wenn wir unser Ego damit verbinden. Wer selbstlos dient, kann wirklich führen.
Beispiel: Ein Politiker, der nur auf Popularität und persönlichen Ruhm aus ist, wird bei Kritik oder Misserfolgen schnell gekränkt. Ein Politiker, der hingegen aus echtem Dienst an der Gemeinschaft handelt, kann auch unpopuläre, aber notwendige Entscheidungen treffen und bleibt stabiler bei Kritik.
Kapitel 14
Man schaut nach ihm und sieht es nicht:
Sein Name ist Keim.
Man horcht nach ihm und hört es nicht:
Sein Name ist Fein.
Man faßt nach ihm und fühlt es nicht:
Sein Name ist Klein.
Diese drei kann man nicht trennen,
darum bilden sie vermischt Eines.
Sein Oberes ist nicht licht,
sein Unteres ist nicht dunkel.
Ununterbrochen quellend,
kann man es nicht nennen.
Er kehrt wieder zurück zum Nichtwesen.
Das heißt die gestaltlose Gestalt,
das dinglose Bild.
Das heißt das dunkel Chaotische.
Ihm entgegengehend sieht man nicht sein Antlitz,
ihm folgend sieht man nicht seine Rückseite.
Wenn man festhält den Sinn des Altertums,
um zu beherrschen das Sein von heute,
so kann man den alten Anfang wissen.
Das heißt des Sinns durchgehender Faden.
Man schaut danach und sieht es nicht: Es ist unsichtbar.
Man horcht danach und hört es nicht: Es ist lautlos.
Man greift danach und fasst es nicht: Es ist formlos.
Diese drei Eigenschaften sind untrennbar vereint.
Es ist weder hell oben noch dunkel unten.
Es fließt endlos und ist doch unbenennbar.
Es kehrt immer wieder zum Nichtsein zurück.
Es ist formlose Form, bildloses Bild.
Es ist unbestimmt und chaotisch.
Wenn wir ihm begegnen, sehen wir nicht sein Gesicht.
Wenn wir ihm folgen, sehen wir nicht seinen Rücken.
Wer die zeitlosen Prinzipien versteht,
kann damit die Gegenwart meistern.
Das ist der rote Faden des Lebenssinns.
Grundgedanke: Der tiefste Sinn des Lebens ist schwer zu erfassen – er ist unsichtbar, lautlos und formlos, und doch die Grundlage von allem.
Beispiel: Vertrauen in einer Beziehung ist wie dieser tiefe Sinn – du kannst es nicht sehen oder anfassen, aber es ist die Grundlage für alles andere. Du bemerkst es oft erst, wenn es fehlt. Es lässt sich nicht erzwingen, sondern entwickelt sich natürlich, wenn die Bedingungen stimmen.
Kapitel 15
Die vor alters tüchtig waren als Meister,
waren im Verborgenen eins mit den unsichtbaren Kräften.
Tief waren sie, so daß man sie nicht kennen kann.
Weil man sie nicht kennen kann,
darum kann man nur mit Mühe ihr Äußeres beschreiben.
Zögernd, wie wer im Winter einen Fluß durchschreitet,
vorsichtig, wie wer von allen Seiten Nachbarn fürchtet,
zurückhaltend wie Gäste,
vergehend wie Eis, das am Schmelzen ist,
einfach, wie unbearbeiteter Stoff,
weit waren sie, wie das Tal,
undurchsichtig waren sie, wie das Trübe.
Wer kann (wie sie) das Trübe durch Stille allmählich klären?
Wer kann (wie sie) die Ruhe
durch Dauer allmählich erzeugen?
Wer diesen Sinn bewahrt,
begehrt nicht Fülle.
Denn nur weil er keine Fülle hat,
darum kann er gering sein,
das Neue meiden
und die Vollendung erreichen.
Die alten Meister waren tiefgründig und mit dem Unsichtbaren verbunden.
Sie waren so tief, dass man sie kaum beschreiben kann.
Sie waren:
Vorsichtig wie beim Überqueren eines Winterflusses,
Achtsam wie jemand, der Gefahren spürt,
Höflich wie ein Gast,
Anpassungsfähig wie schmelzendes Eis,
Einfach wie unbearbeitetes Holz,
Offen wie ein Tal,
Undurchschaubar wie trübes Wasser.
Wer kann wie sie Trübheit durch Ruhe klären?
Wer kann wie sie durch Geduld Klarheit schaffen?
Wer diesen Weg bewahrt,
verlangt nicht nach Überfluss.
Weil er nicht überfüllt ist,
kann er bescheiden bleiben,
Neues annehmen
und Vollendung erreichen.
Grundgedanke: Wahre Meister waren vorsichtig, achtsam, anpassungsfähig und einfach. Sie suchten nicht nach Überfluss und konnten dadurch wachsen.
Beispiel: Ein erfahrener Handwerker arbeitet nicht hastig oder mit Gewalt, sondern beobachtet genau, passt sich dem Material an und nutzt minimal nötige Kraft. Er eilt nicht zum nächsten Projekt, sondern konzentriert sich voll auf seine aktuelle Aufgabe. Dadurch erreicht er Meisterschaft, die für andere unerreichbar scheint.
Kapitel 16
Schaffe Leere bis zum Höchsten!
Wahre die Stille bis zum Völligsten!
Alle Dinge mögen sich dann zugleich erheben.
Ich schaue, wie sie sich wenden.
Die Dinge in all ihrer Menge,
ein jedes kehrt zurück zu seiner Wurzel.
Rückkehr zur Wurzel heilst Stille.
Stille heißt Wendung zum Schicksal.
Wendung zum Schicksal heißt Ewigkeit.
Erkenntnis der Ewigkeit heißt Klarheit.
Erkennt man das Ewige nicht,
so kommt man in Wirrnis und Sünde.
Erkennt man das Ewige,
so wird man duldsam.
Duldsamkeit führt zur Gerechtigkeit.
Gerechtigkeit führt zur Herrschaft.
Herrschaft führt zum Himmel.
Himmel führt zum Sinn.
Sinn führt zur Dauer.
Sein Leben lang kommt man nicht in Gefahr.Finde innere Ruhe und Stille.
Beobachte, wie alle Dinge entstehen und vergehen.
Alles kehrt zu seinem Ursprung zurück.
Zur Ruhe kommen bedeutet, das Wesentliche zu erkennen.
Das Wesentliche zu erkennen bedeutet, Klarheit zu finden.
Wer das Dauerhafte nicht erkennt, handelt unüberlegt und richtet Schaden an.
Wer das Dauerhafte erkennt, wird tolerant.
Toleranz führt zu Fairness.
Fairness führt zu erfolgreicher Führung.
Erfolgreiche Führung verbindet mit dem Himmel.
Der Himmel verbindet mit dem Lebenssinn.
Der Lebenssinn schenkt Beständigkeit
Grundgedanke: Innere Ruhe und Stille führen zu Klarheit, Toleranz und einer beständigen Lebensweise.
Beispiel: Eine erfahrene Managerin behält in einer Krisensituation die Ruhe, anstatt in Panik zu geraten. Sie erkennt die grundlegenden Muster im Chaos, trifft faire Entscheidungen und löst so das Problem nachhaltig. Ihre Gelassenheit überträgt sich auf das Team und führt zu besserem Zusammenhalt.
Kapitel 17
Herrscht ein ganz Großer,
so weiß das Volk kaum, daß er da ist.
Mindere werden geliebt und gelobt,
noch Mindere werden gefürchtet,
noch Mindere werden verachtet.
Wie überlegt muß man sein in seinen Worten!
Die Werke sind vollbracht, die Geschäfte gehen ihren Lauf,
und die Leute denken alle:
»Wir sind frei.«
Die besten Anführer arbeiten so unauffällig, dass die Menschen kaum merken, dass sie da sind.
Mittelmäßige Anführer werden gelobt und geliebt.
Schlechtere werden gefürchtet.
Die schlechtesten werden verachtet.
Sei vorsichtig mit deinen Worten!
Wenn die Arbeit gut gemacht ist und alles läuft, denken die Menschen: „Wir haben das selbst geschafft.“
Grundgedanke: Die besten Führungspersonen wirken im Hintergrund und lassen andere glänzen.
Beispiel: Ein guter Fußballtrainer schafft die Bedingungen für den Erfolg seines Teams, stellt aber nie sich selbst in den Mittelpunkt. Nach einem Sieg loben alle die Spieler, während er unauffällig bleibt. Die Spieler sagen: „Wir haben das geschafft!“ – und genau das ist sein Erfolg.
Kapitel 18
Geht der große Sinn zugrunde,
so gibt es Sittlichkeit und Pflicht.
Kommen Klugheit und Wissen auf,
so gibt es die großen Lügen.
Werden die Verwandten uneins,
so gibt es Kindespflicht und Liebe.
Geraten die Staaten in Verwirrung,
so gibt es die treuen Beamten.
Wenn der natürliche Lebenssinn verloren geht, entstehen künstliche Regeln und Moral.
Wenn Schlauheit und Intellekt überbewertet werden, entstehen große Täuschungen.
Wenn Familien zerbrechen, entstehen betonte Forderungen nach Loyalität und Liebe.
Wenn Staaten im Chaos versinken, entstehen Rufe nach treuen Beamten.
Grundgedanke: Natürlichkeit ist besser als künstliche Regeln. Wenn der natürliche Sinn verloren geht, entstehen komplizierte Ersatzsysteme.
Beispiel: In einer gesunden Familie braucht es keine strengen Regeln über Liebe und Respekt – sie entwickeln sich natürlich. In dysfunktionalen Familien dagegen entstehen oft übertriebene Regeln und Forderungen nach Loyalität, die die eigentlichen Probleme nicht lösen können.
Kapitel 19
Tut ab die Heiligkeit, werft weg das Wissen,
so wird das Volk hundertfach gewinnen.
Tut ab die Sittlichkeit, werft weg die Pflicht,
so wird das Volk zurückkehren zu Kindespflicht und Liebe.
Tut ab die Geschicklichkeit, werft weg den Gewinn,
so wird es Diebe und Räuber nicht mehr geben.
In diesen drei Stücken
ist der schöne Schein nicht ausreichend.
Darum sorgt, daß die Menschen sich an etwas halten können.
Zeigt Einfachheit, haltet fest die Lauterkeit!
Mindert Selbstsucht, verringert die Begierden!
Gebt auf die Gelehrsamkeit!
So werdet ihr frei von Sorgen.
Lasst die Heiligkeit und das Besserwissen los, dann wird es den Menschen besser gehen.
Lasst die komplizierte Moral und Pflichterfüllung los, dann kehren echte Familienbeziehungen zurück.
Lasst die Schlauheit und Profitgier los, dann werden Diebstahl und Kriminalität verschwinden.
Diese oberflächlichen Lösungen reichen nicht aus.
Stattdessen sollten wir:
Einfachheit und Ehrlichkeit fördern
Selbstsucht und Begierde reduzieren
Auf überflüssiges Wissen verzichten
So werden wir sorgenfrei leben.
Grundgedanke: Einfachheit, Ehrlichkeit und weniger Begierde bringen mehr Frieden als komplizierte Regeln und Moral.
Beispiel: Ein Unternehmen mit einfachen, klaren Grundsätzen und einer Kultur der Ehrlichkeit braucht weniger Kontrollen und Regeln als eines, das mit komplizierten Compliance-Systemen versucht, Fehlverhalten zu verhindern. Weniger Fokus auf Status und Bonuszahlungen kann zu mehr Zusammenarbeit und weniger Konkurrenzdenken führen.
Kapitel 20
Zwischen »Gewiß« und »jawohl«:
was ist da für ein Unterschied?
Zwischen »Gut« und »Böse«;
was ist da für ein Unterschied?
Was die Menschen ehren, muß man ehren.
0 Einsamkeit, wie lange dauerst Du?
Alle Menschen sind so strahlend,
als ginge es zum großen Opfer,
als stiegen sie im Frühling auf die Türme.
Nur ich bin so zögernd, mir ward noch kein Zeichen,
wie ein Säugling, der noch nicht lachen kann,
unruhig, umgetrieben, als hätte ich keine Heimat.
Alle Menschen haben Überfluß;
nur ich bin wie vergessen.
Ich habe das Herz eines Toren, so wirr und dunkel.
Die Weltmenschen sind hell, ach so hell;
nur ich bin wie trübe.
Die Weltmenschen sind klug, ach so klug;
nur ich bin wie verschlossen in mir,
unruhig, ach, als wie das Meer,
wirbelnd, ach, ohn Unterlaß.
Alle Menschen haben ihre Zwecke;
nur ich bin müßig wie ein Bettler.
Ich allein bin anders als die Menschen:
Doch ich halte es wert,
Nahrung zu suchen bei der Mutter.
Ist der Unterschied zwischen „ja“ und „sicher“ wirklich so wichtig?
Ist der Unterschied zwischen „gut“ und „schlecht“ wirklich so eindeutig?
Die anderen Menschen wirken so selbstsicher und zufrieden.
Nur ich fühle mich unsicher und zögerlich,
wie ein Kind, das noch nicht lächeln kann,
rastlos, als hätte ich keine Heimat.
Alle anderen scheinen alles zu haben,
nur ich wirke verloren.
Mein Denken erscheint verwirrend, während andere so klar sind.
Die anderen scheinen so klug und entschlossen,
nur ich bin wie verschlossen,
unruhig wie das Meer.
Alle anderen haben klare Ziele,
nur ich scheine ziellos wie ein Bettler.
Ich bin anders als die anderen,
doch ich schätze es, meine Nahrung aus der Urquelle zu beziehen.
Grundgedanke: Manchmal ist es wertvoll, unsicher und fragend zu sein, während alle anderen sich ihrer Sache sicher scheinen.
Beispiel: Bei einer Teambesprechung haben alle eine feste Meinung zum neuen Projekt. Nur ein Kollege zögert und stellt Fragen, die anderen unbequem erscheinen. Später stellt sich heraus, dass genau diese Fragen wichtige Probleme aufdeckten, die alle anderen übersehen hatten.
Kapitel 21
Des großen Lebens Inhalt
folgt ganz dem Sinn.
Der Sinn bewirkt die Dinge
so chaotisch, so dunkel.
Chaotisch, dunkel
sind in ihm Bilder.
Dunkel, chaotisch
sind in ihm Dinge.
Unergründlich finster
ist in ihm Same.
Dieser Same ist ganz wahr.
In ihm ist Zuverlässigkeit.
Von alters bis heute
sind die Namen nicht zu entbehren,
um zu überschauen alle Dinge.
Woher weiß ich aller Dinge Art?
Eben durch sie.
Das Leben folgt dem natürlichen Sinn.
Dieser Sinn bringt Dinge hervor, die oft chaotisch und unklar erscheinen.
In diesem Chaos sind Bilder verborgen.
In diesem Dunkel sind Dinge verborgen.
In dieser Tiefe ist Potenzial verborgen.
Dieses Potenzial ist echt und zuverlässig.
Von alters her bis heute kann man die Dinge durch diesen Sinn verstehen.
Woher weiß ich, wie alles funktioniert?
Durch diesen Sinn.
Grundgedanke: Unter der chaotischen Oberfläche des Lebens liegt ein tieferer Sinn, der nicht immer sichtbar, aber zuverlässig ist.
Beispiel: Ein Gärtner sieht im scheinbaren Chaos eines Naturgartens die tiefere Ordnung: wie Pflanzen sich gegenseitig stärken, wie Insekten und Vögel ein Gleichgewicht schaffen. Er versteht die unsichtbaren Muster, während Besucher nur Unordnung sehen mögen.
Kapitel 22
Was halb ist, wird ganz werden.
Was krumm ist, wird gerade werden.
Was leer ist, wird voll werden.
Was alt ist, wird neu werden.
Wer wenig hat, wird bekommen.
Wer viel hat, wird benommen.
Also auch der Berufene:
Er umfaßt das Eine
und ist der Welt Vorbild.
Er will nicht selber scheinen,
darum wird er erleuchtet.
Er will nichts selber sein,
darum wird er herrlich.
Er rühmt sich selber nicht,
darum vollbringt er Werke.
Er tut sich nicht selber hervor,
darum wird er erhoben.
Denn wer nicht streitet,
mit dem kann niemand auf der Welt streiten.
Was die Alten gesagt: »Was halb ist, soll voll werden«,
ist fürwahr kein leeres Wort.
Alle wahre Vollkommenheit ist darunter befaßt.
Was unvollständig ist, wird vollständig werden.
Was verbogen ist, wird gerade werden.
Was leer ist, wird gefüllt werden.
Was abgenutzt ist, wird erneuert werden.
Wer wenig hat, wird gewinnen.
Wer zu viel hat, wird sich verirren.
Der weise Mensch:
Hält sich an das Wesentliche und ist ein Vorbild
Will nicht glänzen, sondern wird dadurch strahlen
Will sich nicht wichtig machen und wird dadurch bedeutend
Prahlt nicht und erreicht dadurch viel
Drängt sich nicht vor und wird dadurch respektiert
Wer nicht kämpft, mit dem kann niemand kämpfen.
Die alte Weisheit „Was unvollständig ist, wird vollständig werden“ ist kein leeres Wort.
Wahre Vollkommenheit liegt darin.
Grundgedanke: Wahre Stärke liegt im Gegenteil von Selbstdarstellung und Egoismus. Natürliche Ausgleichsprozesse sorgen dafür, dass alles ins Gleichgewicht kommt.
Beispiel: Eine Kollegin, die nie ihre Leistungen anpreist und immer das Team in den Vordergrund stellt, gewinnt mit der Zeit mehr Respekt und Einfluss als der selbstdarstellerische Kollege. Während er ständig kämpfen muss, um Anerkennung zu bekommen, fließt sie ihr natürlich zu.
Kapitel 23
Macht selten die Worte,
dann geht alles von selbst.
Ein Wirbelsturm dauert keinen Morgen lang.
Ein Platzregen dauert keinen Tag.
Und wer wirkt diese?
Himmel und Erde.
Was nun selbst Himmel und Erde nicht dauernd vermögen,
wieviel weniger kann das der Mensch?
Darum: Wenn du an dein Werk gehst mit dem Sinn,
so wirst du mit denen, so den Sinn haben, eins im Sinn,
mit denen, so das Leben haben, eins im Leben,
mit denen, so arm sind, eins in ihrer Armut.
Bist du eins mit ihnen im Sinn,
so kommen dir die, so den Sinn haben, auch freudig entgegen.
Bist du eins mit ihnen im Leben,
so kommen dir die, so das Leben haben, auch freudig entgegen.
Bist du eins mit ihnen in ihrer Armut,
so kommen dir die, so da arm sind, auch freudig entgegen.
Wo aber der Glaube nicht stark genug ist,
da findet man keinen Glauben.
Sprich wenig, dann läuft alles besser.
Ein Sturm dauert nicht den ganzen Morgen.
Ein Wolkenbruch dauert nicht den ganzen Tag.
Und wer verursacht diese?
Natur und Kosmos.
Wenn selbst die Natur nicht ewig in Extremen verharrt,
wie könnten wir Menschen das?
Wer im Einklang mit dem natürlichen Sinn handelt:
Wird eins mit denen, die den Sinn verstehen
Wird eins mit denen, die voller Leben sind
Wird eins mit denen, die bescheiden leben
Bist du eins mit ihnen, werden sie dich willkommen heißen.
Aber wo Vertrauen fehlt, findet man kein Vertrauen.
Grundgedanke: Extreme halten nicht an. Natürliche Mäßigung ist der bessere Weg, und authentische Verbindung wichtiger als viele Worte.
Beispiel: Eine Mutter schreit ihre Kinder selten an – und wenn doch, dann hören sie zu, weil es die Ausnahme ist. Ein Vater, der ständig laut wird, wird irgendwann ignoriert. Wie ein Gewitter, das nicht ewig dauern kann, sind auch menschliche Extreme nicht nachhaltig.
Kapitel 24
Wer auf den Zehen steht,
steht nicht fest.
Wer mit gespreizten Beinen geht,
kommt nicht voran.
Wer selber scheinen will,
wird nicht erleuchtet.
Wer selber etwas sein will,
wird nicht herrlich.
Wer selber sich rühmt,
vollbringt nicht Werke.
Wer selber sich hervortut,
wird nicht erhoben.
Er ist für den Sinn wie Küchenabfall und Eiterbeule.
Und auch die Geschöpfe alle hassen ihn.
Darum: Wer den Sinn hat,
weilt nicht dabei.
Wer auf Zehenspitzen steht, steht nicht sicher.
Wer mit gespreizten Beinen geht, kommt nicht weit.
Wer sich selbst darstellen will, wird nicht respektiert.
Wer sich selbst wichtig nimmt, wird nicht anerkannt.
Wer mit seinen Leistungen prahlt, erreicht nichts Bleibendes.
Wer sich selbst in den Vordergrund stellt, wird nicht führen können.
Solches Verhalten ist im natürlichen Sinn wie Abfall oder eine Infektion.
Niemand mag solche Menschen.
Darum hält sich der Weise nicht damit auf.
Grundgedanke: Angeberei und Selbstdarstellung führen nicht zu echtem Erfolg und Respekt.
Beispiel: Ein neuer Mitarbeiter prahlt ständig mit seinem Wissen und seinen früheren Erfolgen. Anfangs beeindruckt er einige, doch bald merken alle, dass er mehr redet als leistet. Seine auf Zehenspitzen stehende Haltung erschwert ihm, wirklich Fuß zu fassen im Team.
Kapitel 25
Es gibt ein Ding, das ist unterschiedslos vollendet.
Bevor der Himmel und die Erde waren, ist es schon da,
so still, so einsam.
Allein steht es und ändert sich nicht.
Im Kreis läuft es und gefährdet sich nicht.
Man kann es nennen die Mutter der Welt.
Ich weiß nicht seinen Namen.
Ich bezeichne es als Sinn.
Mühsam einen Namen ihm gebend,
nenne ich es: groß.
Groß, das heißt immer bewegt.
Immer bewegt, das heißt ferne.
Ferne, das heißt zurückkehrend.
So ist der Sinn groß, der Himmel groß, die Erde groß,
und auch der Mensch ist groß.
Vier Große gibt es im Räume,
und der Mensch ist auch darunter.
Der Mensch richtet sich nach der Erde.
Die Erde richtet sich nach dem Himmel.
Der Himmel richtet sich nach dem Sinn.
Der Sinn richtet sich nach sich selber.
Es gibt etwas, das vollkommen und ununterscheidbar ist.
Es war schon da, bevor Himmel und Erde entstanden.
Es steht still und einsam da.
Es bleibt unveränderlich.
Es bewegt sich im Kreis, ohne Gefahr zu laufen.
Man könnte es den Ursprung der Welt nennen.
Ich kenne seinen Namen nicht.
Ich nenne es den „Lebenssinn“.
Wenn ich ihm einen Namen geben muss, nenne ich es „groß“.
Groß bedeutet, es ist in ständiger Bewegung.
In Bewegung bedeutet, es reicht weit.
Weit bedeutet, es kehrt wieder zurück.
Der Lebenssinn ist groß, der Himmel ist groß, die Erde ist groß,
und auch der Mensch ist groß.
Es gibt vier große Kräfte im Universum,
und der Mensch ist eine davon.
Der Mensch richtet sich nach der Erde.
Die Erde richtet sich nach dem Himmel.
Der Himmel richtet sich nach dem Lebenssinn.
Der Lebenssinn richtet sich nach sich selbst.
Grundgedanke: Es gibt eine grundlegende Ordnung im Universum, die vor allem existierte und nach der sich alles richtet.
Beispiel: Ein Wissenschaftler erforscht jahrelang ein komplexes Problem. Plötzlich erkennt sie ein grundlegendes Muster, das alles erklärt – ein Prinzip, das immer da war, aber nicht gesehen wurde. Sie erkennt, dass sie nicht etwas Neues erschaffen, sondern etwas Grundlegendes entdeckt hat, das auch ohne ihre Entdeckung existiert hätte.
Kapitel 26
Das Gewichtige ist des Leichten Wurzel.
Die Stille ist der Unruhe Herr.
Also auch der Berufene:
Er wandert den ganzen Tag,
ohne sich vom schweren Gepäck zu trennen.
Mag er auch alle Herrlichkeiten vor Augen haben:
Er weilt zufrieden in seiner Einsamkeit.
Wieviel weniger erst darf der Herr des Reiches
in seiner Person den Erdkreis leicht nehmen!
Durch Leichtnehmen verliert man die Wurzel.
Durch Unruhe verliert man die Herrschaft.
Das Schwere ist die Grundlage des Leichten.
Die Ruhe ist Herr über die Unruhe.
Der weise Mensch:
Er reist den ganzen Tag,
ohne sein wichtiges Gepäck zu verlieren.
Auch wenn er Luxus und Reichtum sehen kann,
bleibt er in sich ruhig und zufrieden.
Wie könnte ein Herrscher das Land leichtfertig behandeln?
Durch Leichtfertigkeit verliert man die Grundlage.
Durch Ruhelosigkeit verliert man die Führung.
Grundgedanke: Leichtfertigkeit führt zu Problemen. Ruhe und Beständigkeit sind die Grundlage für alles andere.
Beispiel: Ein Manager, der ständig von einer Idee zur nächsten springt und alles sofort ändern will, verunsichert sein Team und verliert Glaubwürdigkeit. Eine Managerin, die beständig bleibt und auch in hektischen Zeiten Ruhe bewahrt, gibt ihrem Team die nötige Sicherheit, um produktiv zu sein.
Kapitel 27
Ein guter Wanderer läßt keine Spur zurück.
Ein guter Redner braucht nichts zu widerlegen.
Ein guter Rechner braucht keine Rechenstäbchen.
Ein guter Schließer braucht nicht Schloß noch Schlüssel,
und doch kann niemand auftun.
Ein guter Binder braucht nicht Strick noch Bänder,
und doch kann niemand lösen.
Der Berufene versteht es immer gut, die Menschen zu retten;
darum gibt es für ihn keine verworfenen Menschen.
Er versteht es immer gut, die Dinge zu retten;
darum gibt es für ihn keine verworfenen Dinge.
Das heißt die Klarheit erben.
So sind die guten Menschen die Lehrer der Nichtguten,
und die nichtguten Menschen sind der Stoff für die Guten.
Wer seine Lehrer nicht werthielte
und seinen Stoff nicht liebte,
der wäre bei allem Wissen in schwerem Irrtum.
Das ist das große Geheimnis.
Ein guter Wanderer hinterlässt keine Spuren.
Ein guter Redner muss nichts widerlegen.
Ein guter Rechner braucht keine Hilfsmittel.
Ein guter Hüter braucht keine Schlösser, und trotzdem kann niemand öffnen.
Ein guter Verbinder braucht keine Schnüre, und trotzdem kann niemand lösen.
Der Weise:
– Rettet immer die Menschen; er verwirft niemanden
– Rettet immer die Dinge; er verwirft nichts – Das ist echte Klarheit.
Die guten Menschen lehren die nicht-so-guten.
Die nicht-so-guten Menschen sind Lernmaterial für die guten.
Wer seine Lehrer nicht schätzt
und das Lernmaterial nicht wertschätzt,
der irrt schwer, egal wie klug er ist.
Das ist das große Geheimnis.
Grundgedanke: Wahre Meisterschaft zeigt sich in natürlicher Mühelosigkeit. Der Weise lehrt durch sein Beispiel und findet Wert in allem und jedem.
Beispiel: Eine erfahrene Köchin arbeitet so effizient, dass ihre Bewegungen kaum wahrnehmbar sind. Sie hinterlässt keinen Abfall, braucht kaum Worte, um ihre Assistenten anzuleiten, und kann aus scheinbar wertlosen Resten noch ein köstliches Gericht zaubern – während ein Anfänger viel Aufhebens macht und trotzdem schlechtere Ergebnisse erzielt.
Kapitel 28
Wer seine Mannheit kennt
und seine Weibheit wahrt,
der ist die Schlucht der Welt.
Ist er die Schlucht der Welt,
so verläßt ihn nicht das ewige Leben,
und er wird wieder wie ein Kind.
Wer seine Reinheit kennt
und seine Schwäche wahrt,
ist Vorbild für die Welt.
Ist Vorbild er der Welt,
so weicht von ihm nicht das ewige Leben,
und er kehrt wieder zum Ungewordenen um.
Wer seine Ehre kennt
und seine Schmach bewahrt,
der ist das Tal der Welt.
Ist er das Tal der Welt,
so hat er Genüge am ewigen Leben,
und er kehrt zurück zur Einfalt.
Ist die Einfalt zerstreut, so gibt es »brauchbare« Menschen.
Übt der Berufene sie aus, so wird er der Herr der Beamten.
Darum: Großartige Gestaltung
bedarf nicht des Beschneidens.
Wer seine Stärke kennt
und auch seine Sanftheit bewahrt,
wird zum Zufluchtsort für alle.
Als Zufluchtsort für alle
bleibt er mit dem dauerhaften Leben verbunden
und wird wieder wie ein Kind.
Wer seine Reinheit kennt
und auch seine Schwächen akzeptiert,
wird zum Vorbild für alle.
Als Vorbild für alle
verliert er nie die Verbindung zum dauerhaften Leben
und kehrt zur Ursprünglichkeit zurück.
Wer seine Ehre kennt
und auch seine Grenzen akzeptiert,
wird zum Tal, das alle aufnimmt.
Als aufnehmendes Tal
hat er genug vom dauerhaften Leben
und kehrt zur Einfachheit zurück.
Wenn die Einfachheit verloren geht, entstehen „nützliche“ Menschen.
Wenn der Weise Einfachheit lebt, wird er zum natürlichen Anführer.
Darum: Wahre Größe
braucht keine Beschneidung.
Grundgedanke: Balance zwischen gegensätzlichen Qualitäten schafft Vollständigkeit. Wer seine Stärken und Schwächen kennt und akzeptiert, findet inneren Frieden.
Beispiel: Eine erfolgreiche Führungskraft kennt ihre analytischen Fähigkeiten, pflegt aber auch ihre Empathie. Sie nutzt ihre Autorität, akzeptiert jedoch gleichzeitig ihre Grenzen. Diese Balance macht sie zu einer vertrauenswürdigen Person, zu der andere kommen, wenn sie Hilfe brauchen.
Kapitel 29
Die Welt erobern und behandeln wollen,
ich habe erlebt, daß das mißlingt.
Die Welt ist ein geistiges Ding,
das man nicht behandeln darf.
Wer sie behandelt, verdirbt sie,
wer sie festhalten will, verliert sie.
Die Dinge gehen bald voran, bald folgen sie,
bald hauchen sie warm, bald blasen sie kalt,
bald sind sie stark, bald sind sie dünn,
bald schwimmen sie oben, bald stürzen sie
Darum meidet der Berufene
das Zusehr, das Zuviel, das Zugroß.
Die Welt erobern und kontrollieren zu wollen – das funktioniert nicht.
Die Welt ist etwas Geistiges, das man nicht manipulieren kann.
Wer sie manipuliert, zerstört sie.
Wer sie festhalten will, verliert sie.
Die Dinge in der Welt:
- Manchmal gehen sie voran, manchmal folgen sie
- Manchmal sind sie warm, manchmal kalt
- Manchmal stark, manchmal schwach
- Manchmal schwimmen sie oben, manchmal sinken sie
Der Weise vermeidet daher Extreme und Übertreibungen.
Grundgedanke: Die Welt lässt sich nicht kontrollieren oder festhalten. Weise ist, wer die natürliche Veränderung akzeptiert und Extreme vermeidet.
Beispiel: Eltern, die versuchen, das Leben ihrer erwachsenen Kinder zu kontrollieren, verlieren oft den Kontakt zu ihnen. Eltern, die loslassen können und die Eigenständigkeit ihrer Kinder respektieren, behalten dagegen oft eine starke Verbindung. Wer zu stark festhalten will, verliert am Ende mehr.
Kapitel 30
Wer im rechten Sinn einem Menschenherrscher hilft,
vergewaltigt nicht durch Waffen die Welt,
denn die Handlungen kommen auf das eigene Haupt zurück.
Wo die Heere geweilt haben, wachsen Disteln und Dornen.
Hinter den Kämpfen her kommen immer Hungerjahre.
Darum sucht der Tüchtige nur Entscheidung, nichts weiter;
er wagt nicht, durch Gewalt zu erobern.
Entscheidung, ohne sich zu brüsten,
Entscheidung, ohne sich zu rühmen,
Entscheidung, ohne stolz zu sein,
Entscheidung, weil’s nicht anders geht,
Entscheidung, ferne von Gewalt.
Wer einem Herrscher richtig dient,
zwingt die Welt nicht mit Waffen,
denn solche Handlungen fallen auf einen selbst zurück.
Wo Armeen waren, wachsen Disteln und Dornen.
Nach Kriegen folgen immer Hungersnöte.
Der kompetente Mensch sucht nur nach Lösungen, nicht nach Eroberungen.
Er wagt nicht, mit Gewalt zu siegen.
Er sucht Lösungen:
- ohne sich zu brüsten
- ohne sich zu rühmen
- ohne stolz zu sein
- nur weil es notwendig ist
- ohne Gewalt anzuwenden
Grundgedanke: Gewalt und Zwang haben negative Folgen und kommen auf einen selbst zurück. Wahre Lösung kommt ohne Prahlerei und Gewalt aus.
Beispiel: Ein Konflikt in der Nachbarschaft: Eine Partei zieht vor Gericht und gewinnt formal, erzeugt aber dauerhaften Groll. Eine andere sucht das Gespräch, findet eine Lösung, die für beide Seiten akzeptabel ist, und erhält den Nachbarschaftsfrieden. Die friedliche Lösung benötigt kein Prahlen mit dem „Sieg“, sie funktioniert einfach besser für alle.
Kapitel 31
Waffen sind unheilvolle Geräte,
alle Wesen hassen sie wohl.
Darum will der, der den rechten Sinn hat,
nichts von ihnen wissen.
Der Edle in seinem gewöhnlichen Leben
achtet die Linke als Ehrenplatz.
Beim Waffenhandwerk ist die Rechte der Ehrenplatz.
Die Waffen sind unheilvolle Geräte,
nicht Geräte für den Edlen.
Nur wenn er nicht anders kann, gebraucht er sie,
Ruhe und Frieden sind ihm das Höchste.
Er siegt, aber er freut sich nicht daran.
Wer sich daran freuen wollte,
würde sich ja des Menschenmordes freuen.
Wer sich des Menschenmordes freuen wollte,
kann nicht sein Ziel erreichen in der Welt.
Bei Glücksfällen achtet man die Linke als Ehrenplatz.
Bei Unglücksfällen achtet man die Rechte .als Ehrenplatz.
Der Unterfeldherr steht zur Linken,
der Oberführer steht zur Rechten.
Das heißt, er nimmt seinen Platz ein
nach dem Brauch der Trauerfeiern.
Menschen töten in großer Zahl,
das soll man beklagen mit Tränen des Mitleids.
Wer im Kampfe gesiegt,
der soll wie bei einer Trauerfeier weilen.
Waffen bringen Unheil, kein vernünftiger Mensch beschäftigt sich gerne mit ihnen.
In normalen Zeiten ist die linke Seite der Ehrenplatz.
Bei militärischen Angelegenheiten ist die rechte Seite der Ehrenplatz.
Waffen sind Werkzeuge des Unheils, kein Instrument für anständige Menschen.
Man benutzt sie nur, wenn es absolut notwendig ist.
Ruhe und Frieden sind viel wichtiger.
Selbst bei einem Sieg gibt es nichts zu feiern.
Wer einen Sieg feiert, freut sich über das Töten von Menschen.
Wer sich am Töten erfreut, wird niemals seinen Zweck in der Welt erfüllen.
Bei glücklichen Ereignissen ehrt man die linke Seite.
Bei traurigen Ereignissen ehrt man die rechte Seite.
Der stellvertretende Kommandant steht links.
Der Hauptkommandant steht rechts.
Das bedeutet, dass sie ihre Position wie bei einer Beerdigung einnehmen.
Das Töten vieler Menschen sollte mit Tränen des Mitgefühls betrauert werden.
Ein Sieg im Kampf sollte wie eine Trauerfeier behandelt werden.
Grundgedanke: Waffen und Gewalt sind Werkzeuge des Unheils, die nur im äußersten Notfall eingesetzt werden sollten. Selbst im Sieg gibt es nichts zu feiern.
Beispiel: Ein Unternehmensleiter, der eine Entlassungswelle durchführen muss, tut dies mit Bedauern und nicht mit Stolz. Auch wenn die Maßnahme wirtschaftlich notwendig ist, feiert er nicht den „Erfolg“ der Kostenreduzierung, sondern behandelt die Situation mit dem nötigen Ernst und Respekt für die betroffenen Menschen.
Kapitel 32
Der Sinn als Ewiger ist namenlose Einfalt.
Obwohl klein,
wagt die Welt ihn nicht zum Diener zu machen.
Wenn Fürsten und Könige ihn so wahren könnten,
so würden alle Dinge sich als Gäste einstellen.
Himmel und Erde würden sich vereinen,
um süßen Tau zu träufeln.
Das Volk würde ohne Befehle
von selbst ins Gleichgewicht kommen.
Wenn die Gestaltung beginnt,
dann erst gibt es Namen.
Die Namen erreichen auch das Sein,
und man weiß auch noch, wo haltzumachen ist.
Weiß man, wo haltzumachen ist,
so kommt man nicht in Gefahr.
Man kann das Verhältnis des Sinns zur Welt vergleichen
mit den Bergbächen und Talwassern,
die sich in Ströme und Meere ergießen.
Der ursprüngliche Sinn des Lebens ist einfach und ohne Namen.
Obwohl er klein erscheint, kann ihn niemand beherrschen.
Wenn Anführer ihn bewahren könnten,
würden alle Dinge von selbst ins Gleichgewicht kommen.
Himmel und Erde würden harmonieren
und Segen bringen.
Die Menschen würden ohne Befehle
von selbst in Ordnung leben.
Sobald wir anfangen, Dinge einzuteilen und zu benennen,
entstehen Kategorien und Namen.
Man sollte aber wissen, wann man aufhören muss mit dem Benennen.
Wenn man weiß, wo man aufhören muss, vermeidet man Gefahr.
Das Verhältnis des Lebenssinns zur Welt gleicht
den Bächen und Flüssen, die ins Meer fließen.
Grundgedanke: Einfachheit und Natürlichkeit führen zu Harmonie. Zu viel Kategorisieren und Benennen führt zu Komplexität und Problemen.
Beispiel: Eine Familie, die keine endlosen Regeln aufstellt, sondern auf gegenseitigen Respekt und natürliches Zusammenleben setzt, lebt oft harmonischer als eine, die für jede Kleinigkeit eine Regel hat. Kinder verstehen intuitiv, was richtig ist, wenn sie in einer liebevollen, einfachen Umgebung aufwachsen.
Kapitel 33
Wer andre kennt, ist klug.
Wer sich selber kennt, ist weise.
Wer andere besiegt, hat Kraft.
Wer sich selber besiegt, ist stark.
Wer sich durchsetzt, hat Willen.
Wer sich genügen läßt, ist reich.
Wer seinen Platz nicht verliert, hat Dauer.
Wer auch im Tode nicht untergeht, der lebt.
Wer andere versteht, ist intelligent.
Wer sich selbst versteht, ist weise.
Wer andere besiegt, hat körperliche Kraft.
Wer sich selbst beherrscht, ist wirklich stark.
Wer sich durchsetzen kann, hat Willenskraft.
Wer zufrieden ist mit dem, was er hat, ist wahrhaft reich.
Wer seinen Platz im Leben kennt, hat Beständigkeit.
Wer auch im Tod nicht vergessen wird, lebt wirklich.
Grundgedanke: Wahre Stärke liegt in der Selbsterkenntnis und Selbstbeherrschung, nicht in der Kontrolle anderer.
Beispiel: Ein Manager, der seine eigenen Schwächen kennt und an ihnen arbeitet, ist langfristig erfolgreicher als einer, der nur versucht, seine Mitarbeiter zu kontrollieren. Während der eine bei Stress überreagiert, bleibt der selbstbeherrschte Manager ruhig und trifft bessere Entscheidungen.
Kapitel 34
Der große Sinn ist überströmend;
er kann zur Rechten sein und zur Linken.
Alle Dinge verdanken ihm ihr Dasein,
und er verweigert sich ihnen nicht.
Ist das Werk vollbracht,
so heißt er es nicht seinen Besitz.
Er kleidet und nährt alle Dinge
und spielt nicht ihren Herrn.
Sofern er ewig nicht begehrend ist,
kann man ihn als klein bezeichnen.
Sofern alle Dinge von ihm abhängen,
ohne ihn als Herrn zu kennen,
kann man ihn als groß bezeichnen.
Also auch der Berufene:
Niemals macht er sich groß;
darum bringt er sein Großes Werk zustande.
Der große Lebenssinn fließt überall hin und durchdringt alles.
Alle Dinge verdanken ihm ihr Dasein, und er drängt sich nie auf.
Wenn etwas erreicht ist, beansprucht er es nicht als sein Eigentum.
Er sorgt für alle Dinge, ohne sie zu beherrschen.
Da er nichts begehrt, könnte man ihn als klein bezeichnen.
Da alle Dinge zu ihm zurückkehren, ohne dass er sich aufdrängt,
könnte man ihn als groß bezeichnen.
Der weise Mensch macht sich nie selbst groß;
gerade deshalb erreicht er Großes.
Grundgedanke: Wahre Größe drängt sich nicht auf. Der Lebenssinn wirkt überall, ohne sich in den Vordergrund zu stellen.
Beispiel: Ein wirklich guter Lehrer steht nicht im Mittelpunkt, sondern lässt seine Schüler glänzen. Er schafft die Bedingungen für ihren Erfolg und freut sich, wenn sie über sich hinauswachsen, ohne sich selbst die Lorbeeren dafür zu nehmen.
Kapitel 35
Wer festhält das große Urbild,
zu dem kommt die Welt.
Sie kommt und wird nicht verletzt,
in Ruhe, Gleichheit und Seligkeit.
Musik und Köder:
Sie machen wohl den Wanderer auf seinem Wege anhalten.
Der Sinn geht aus dem Munde hervor,
milde und ohne Geschmack.
Du blickst nach ihm und siehst nichts Sonderliches.
Du horchst nach ihm und hörst nichts Sonderliches.
Du handelst nach ihm und findest kein Ende.
Wer sich an die grundlegenden Prinzipien hält,
gewinnt das Vertrauen der Welt.
Die Welt kommt zu ihm ohne Schaden zu nehmen,
in Ruhe, Ausgeglichenheit und Wohlbefinden.
Musik und gutes Essen können einen Reisenden zum Anhalten bewegen.
Aber der Lebenssinn, wenn er ausgesprochen wird,
erscheint mild und ohne besonderen Geschmack.
Du siehst ihn an und erkennst nichts Besonderes.
Du hörst ihm zu und hörst nichts Besonderes.
Doch wenn du nach ihm handelst, ist er unerschöpflich.
Grundgedanke: Das Wesentliche im Leben ist oft unscheinbar und nicht spektakulär, aber seine Wirkung ist unendlich.
Beispiel: Ein täglicher kurzer Spaziergang erscheint nicht so beeindruckend wie ein intensives Fitnesstraining, hat aber langfristig oft tiefere Auswirkungen auf Gesundheit und Wohlbefinden. Das Unspektakuläre kann die nachhaltigste Wirkung haben.
Kapitel 36
Was du zusammendrücken willst,
das mußt du erst richtig sich ausdehnen lassen.
Was du schwächen willst,
das mußt du erst richtig stark werden lassen.
Was du vernichten willst,
das mußt du erst richtig aufblühen lassen.
Wem du nehmen willst,
dem mußt du erst richtig geben.
Das heißt Klarheit über das Unsichtbare.
Das Weiche siegt über das Harte.
Das Schwache siegt über das Starke.
Den Fisch darf man nicht der Tiefe entnehmen.
Des Reiches Förderungsmittel
darf man nicht den Leuten zeigen.
Was du zusammendrücken willst, musst du zuerst sich ausdehnen lassen.
Was du schwächen willst, musst du zuerst stark werden lassen.
Was du beseitigen willst, musst du zuerst fördern.
Was du wegnehmen willst, musst du zuerst geben.
Das ist die subtile Einsicht:
Das Weiche überwindet das Harte.
Das Schwache überwindet das Starke.
Man sollte den Fisch nicht aus der Tiefe holen (seine Geheimnisse bewahren).
Die nützlichen Werkzeuge des Staates
sollte man nicht allen zeigen.
Grundgedanke: Gegensätze sind miteinander verbunden. Was du verringern willst, musst du zuerst würdigen; was du verändern willst, musst du erst akzeptieren.
Beispiel: Ein Ehepaar mit Konfliktpotential: Statt den Partner direkt zu kritisieren („Du bist zu unordentlich!“), erkennt die klügere Person zuerst die Stärke des Partners an („Deine Spontaneität bringt viel Freude in unser Leben. Könnten wir gemeinsam überlegen, wie wir trotzdem etwas mehr Ordnung schaffen?“). Diese Anerkennung macht Veränderung erst möglich.
Kapitel 37
Der Sinn ist ewig ohne Machen,
und nichts bleibt ungemacht.
Wenn Fürsten und Könige ihn zu wahren verstehen,
so werden alle Dinge sich von selber gestalten.
Gestalten sie sich und es erheben sich die Begierden,
so würde ich sie bannen durch namenlose Einfalt.
Namenlose Einfalt bewirkt Wunschlosigkeit.
Wunschlosigkeit macht still,
und die Welt wird von selber recht.
Der Lebenssinn wirkt ohne zu handeln,
und doch bleibt nichts ungetan.
Wenn Anführer diesem Prinzip folgen können,
werden sich alle Dinge von selbst entwickeln.
Wenn Begierden entstehen,
können sie durch Einfachheit beruhigt werden.
Einfachheit führt zu Wunschlosigkeit.
Wunschlosigkeit bringt Ruhe,
und die Welt kommt von selbst in Ordnung.
Grundgedanke: Nicht-Handeln (Wu Wei) bedeutet, die natürlichen Prozesse nicht zu stören, sondern sie wirken zu lassen.
Beispiel: Ein guter Gärtner weiß, wann er eingreifen muss und wann er die Natur arbeiten lassen sollte. Statt ständig zu düngen, zu schneiden und zu kontrollieren, schafft er die richtigen Bedingungen und lässt die Pflanzen dann auf natürliche Weise wachsen.
Kapitel 38
Wer das Leben hochhält, weiß nichts vom Leben;
darum hat er Leben.
Wer das Leben nicht hochhält,
sucht das Leben nicht zu verlieren;
darum hat er kein Leben.
Wer das Leben hochhält,
handelt nicht und hat keine Absichten.
Wer das Leben nicht hochhält,
handelt und hat Absichten.
Wer die Liebe hochhält, handelt, aber hat keine Absichten.
Wer die Gerechtigkeit hochhält, handelt und hat Absichten.
Wer die Sitte hochhält, handelt,
und wenn ihm jemand nicht erwidert,
so fuchtelt er mit den Armen und holt ihn heran.
Darum: Ist der Sinn verloren, dann das Leben.
Ist das Leben verloren, dann die Liebe.
Ist die Liebe verloren, dann die Gerechtigkeit.
Ist die Gerechtigkeit verloren, dann die Sitte.
Die Sitte ist Treu und Glaubens Dürftigkeit
und der Verwirrung Anfang.
Vorherwissen ist des SinnES Schein
und der Torheit Beginn.
Darum bleibt der rechte Mann beim Völligen
und nicht beim Dürftigen.
Er wohnt im Sein und nicht im Schein.
Er tut das andere ab und hält sich an dieses.
Wer wahrhaft tugendhaft ist, muss nicht darüber nachdenken;
deswegen ist er wirklich tugendhaft.
Wer bewusst versucht, tugendhaft zu erscheinen,
hat das Wesentliche verloren.
Der wahrhaft Tugendhafte handelt ohne Hintergedanken.
Der bewusst Tugendhafte handelt mit Absicht.
Der Liebevolle handelt, aber ohne Eigennutz.
Der Gerechte handelt, aber mit Absicht.
Der an Regeln Festhaltende handelt,
und wenn andere nicht mitmachen,
zwingt er sie durch Druck.
Darum: Wenn der natürliche Sinn verloren geht, entsteht künstliche Tugend.
Wenn die Tugend verloren geht, entsteht künstliche Menschenliebe.
Wenn die Menschenliebe verloren geht, entsteht künstliche Gerechtigkeit.
Wenn die Gerechtigkeit verloren geht, entstehen künstliche Regeln.
Diese Regeln sind nur ein dürftiger Ersatz für Vertrauen und Ehrlichkeit
und der Anfang von Unordnung.
Vorhersagen und Planen sind nur oberflächliche Formen des Lebenssinns
und oft der Beginn von Torheit.
Daher hält sich der weise Mensch an das Wesentliche, nicht an den Ersatz.
Er lebt in der Wirklichkeit, nicht im Schein.
Er wählt das Eine und lässt das Andere.
Grundgedanke: Wahre Tugend ist natürlich und unbewusst. Je mehr Regeln und Pflichten wir erschaffen, desto weiter entfernen wir uns vom natürlichen Lebenssinn.
Beispiel: Ein Kind teilt spontan sein Spielzeug mit einem anderen Kind, ohne darüber nachzudenken. Ein Erwachsener hingegen überlegt, ob es seiner sozialen Stellung entspricht, ob der andere es verdient hat, was er zurückbekommen könnte, usw. Die unbewusste, natürliche Großzügigkeit ist der bewussten, kalkulierten überlegen.
Kapitel 39
Die einst das Eine erlangten:
Der Himmel erlangte das Eine und wurde rein.
Die Erde erlangte das Eine und wurde fest.
Die Götter erlangten das Eine und wurden mächtig.
Das Tal erlangte das Eine und erfüllte sich.
Alle Dinge erlangten das Eine und entstanden.
Könige und Fürsten erlangten das Eine
und wurden das Vorbild der Welt.
Das alles ist durch das Eine bewirkt.
Wäre der Himmel nicht rein dadurch, so müßte er bersten.
Wäre die Erde nicht fest dadurch, so müßte sie wanken.
Wären die Götter nicht mächtig dadurch, so müßten sie erstarren.
Wäre das Tal nicht erfüllt dadurch, so müßte es sich erschöpfen.
Wären alle Dinge nicht erstanden dadurch, so müßten sie erlöschen.
Wären die Könige und Fürsten nicht erhaben dadurch, so müßten sie stürzen.
Darum: Das Edle hat das Geringe zur Wurzel.
Das Hohe hat das Niedrige zur Grundlage.
Also auch die Fürsten und Könige:
Sie nennen sich: »Einsam«, »Verwaist«, »Wenigkeit«.
Dadurch bezeichnen sie das Geringe als ihre Wurzel.
Oder ist es nicht so?
Denn: Ohne die einzelnen Bestandteile eines Wagens
gibt es keinen Wagen.
Wünsche nicht das glänzende Gleißen des Juwels,
sondern die rohe Rauheit des Steins.
Die folgenden Dinge haben seit Urzeiten die Einheit erlangt:
Der Himmel wurde durch die Einheit klar.
Die Erde wurde durch die Einheit stabil.
Die geistigen Kräfte wurden durch die Einheit wirksam.
Das Tal wurde durch die Einheit fruchtbar.
Alle Geschöpfe entstanden durch die Einheit.
Anführer wurden durch die Einheit Vorbilder für die Welt.
All dies geschah durch die Einheit.
Ohne Klarheit würde der Himmel zerbrechen.
Ohne Stabilität würde die Erde beben.
Ohne Wirksamkeit würden die geistigen Kräfte verschwinden.
Ohne Fruchtbarkeit würde das Tal vertrocknen.
Ohne Leben würden alle Geschöpfe vergehen.
Ohne Vorbilder würden Anführer stürzen.
Darum: Das Edle hat das Einfache als Grundlage.
Das Hohe hat das Niedrige als Fundament.
Deshalb nennen sich Anführer selbst:
„Einsam“, „Verwaist“, „Unwürdig“.
Damit zeigen sie, dass sie ihre einfache Grundlage anerkennen.
Stimmt das nicht?
Denn: Ein Wagen besteht aus verschiedenen Teilen.
Strebe nicht nach glänzendem Schmuck,
sondern schätze die einfache Substanz.
Grundgedanke: Alles basiert auf der grundlegenden Einheit. Das Höhere braucht das Niedrigere als Fundament.
Beispiel: Ein erfolgreicher Unternehmer, der seine einfachen Anfänge vergisst und sich für etwas Besseres hält, verliert oft den Bezug zur Realität und scheitert. Wer hingegen seine Wurzeln anerkennt und bescheiden bleibt („Ich hatte Glück“, „Ich hatte gute Lehrer“), behält eine solide Grundlage für anhaltenden Erfolg.
Kapitel 40
Rückkehr ist die Bewegung des Sinns.
Schwachheit ist die Wirkung des Sinns.
Alle Dinge unter dem Himmel entstehen im Sein.
Das Sein entsteht im Nichtsein.
Zurückkehren ist die Bewegung des Lebenssinns.
Nachgeben ist die Wirkungsweise des Lebenssinns.
Alle Dinge in der Welt entstehen aus dem Sein.
Das Sein entsteht aus dem Nichtsein.
Grundgedanke: Zurückgehen und Nachgeben ist oft der Weg vorwärts. Das Sein entsteht aus dem Nichts.
Beispiel: Ein Konflikt in einer Beziehung: Statt weiter zu argumentieren und nach vorne zu drängen, macht ein Partner einen Schritt zurück und hört wirklich zu. Diese scheinbare „Rückwärtsbewegung“ ermöglicht oft den eigentlichen Fortschritt in der Kommunikation.
Kapitel 41
Wenn ein Weiser höchster Art vom Sinn hört,
so ist er eifrig und tut danach.
Wenn ein Weiser mittlerer Art vom Sinn hört,
so glaubt er halb, halb zweifelt er.
Wenn ein Weiser niedriger Art vom Sinn hört,
so lacht er laut darüber.
Wenn er nicht laut lacht,
so war es noch nicht der eigentliche Sinn.
Darum hat ein Spruchdichter die Worte:
»Der klare Sinn erscheint dunkel.
Der Sinn des Fortschritts erscheint als Rückzug.
Das höchste Leben erscheint als Tal.
Der ebene Sinn erscheint rauh.
Die höchste Reinheit erscheint als Schmach.
Das weite Leben erscheint als ungenügend.
Das starke Leben erscheint verstohlen.
Das wahre Wesen erscheint veränderlich.
Das große Geviert hat keine Ecken.
Das große Gerät wird spät vollendet.
Der große Ton hat unhörbaren Laut.
Das große Bild hat keine Form.«
Der Sinn in seiner Verborgenheit ist ohne Namen.
Und doch ist gerade der Sinn gut
im Spenden und Vollenden.
Wenn ein hoch entwickelter Mensch vom Lebenssinn hört,
folgt er ihm eifrig.
Wenn ein durchschnittlicher Mensch davon hört,
zweifelt er halb und glaubt halb.
Wenn ein oberflächlicher Mensch davon hört,
lacht er laut darüber.
Wenn er nicht lachen würde,
wäre es nicht der wahre Lebenssinn.
Deshalb sagt ein altes Sprichwort:
„Der klare Sinn erscheint dunkel.
Der fortschrittliche Weg scheint wie ein Rückschritt.
Der höchste Charakter erscheint wie ein Tal.
Die reine Wahrheit erscheint wie verwirrend.
Die größte Reinheit erscheint wie befleckt.
Das reichste Leben erscheint ungenügend.
Die stärkste Kraft erscheint schwach.
Das Echte erscheint wie veränderlich.
Das große Quadrat hat keine Ecken.
Das große Werkzeug wird spät vollendet.
Der große Klang hat einen leisen Ton.
Das große Bild hat keine Form.“
Der Lebenssinn ist im Verborgenen namenlos.
Und doch ist es gerade der Lebenssinn, der gut
im Geben und Vollenden ist.
Grundgedanke: Der wahre Lebenssinn erscheint oft paradox und wird von oberflächlichen Menschen missverstanden oder belächelt.
Beispiel: Ein neuer Mitarbeiter im Team schlägt vor, weniger zu arbeiten, um produktiver zu sein. Die anderen lachen, weil die Idee paradox klingt. Später zeigt sich, dass regelmäßige Pausen und kürzere Arbeitstage tatsächlich die Produktivität steigern – aber nur die tieferen Denker im Team waren offen für diese scheinbar widersprüchliche Idee.
Kapitel 42
Der Sinn erzeugt die Eins.
Die Eins erzeugt die Zwei.
Die Zwei erzeugt die Drei.
Die Drei erzeugt alle Dinge.
Alle Dinge haben im Rücken das Dunkle
und streben nach dem Licht,
und die strömende Kraft gibt ihnen Harmonie.
Was die Menschen hassen,
ist Verlassenheit, Einsamkeit, Wenigkeit.
Und doch wählen Fürsten und Könige
sie zu ihrer Selbstbezeichnung.
Denn die Dinge werden
entweder durch Verringerung vermehrt
oder durch Vermehrung verringert.
Was andre lehren, lehre ich auch:
»Die Starken sterben nicht eines natürlichen Todes«.
Das will ich zum Ausgangspunkt meiner Lehre machen.
Der Lebenssinn bringt die Einheit hervor.
Die Einheit bringt die Zweiheit hervor.
Die Zweiheit bringt die Dreiheit hervor.
Die Dreiheit bringt alle Dinge hervor.
Alle Dinge tragen das Dunkle (Yin) in sich
und umfassen das Licht (Yang),
und die fließende Kraft harmonisiert beides.
Was die Menschen nicht mögen, ist
allein, einsam oder unbedeutend zu sein.
Doch genau diese Begriffe verwenden Anführer
für sich selbst.
Denn manche Dinge werden
durch Verminderung vermehrt
oder durch Vermehrung vermindert.
Was andere lehren, lehre ich auch:
„Die Gewaltätigen sterben keines natürlichen Todes.“
Das ist die Grundlage meiner Lehre.
Grundgedanke: Aus der Einheit entstehen alle Vielfalt und alle Gegensätze. Manchmal führt Verminderung zu Vermehrung und umgekehrt.
Beispiel: Eine Familie, die bewusst auf ein zweites Auto verzichtet (Verminderung), gewinnt dadurch finanziellen Spielraum, mehr Zeit (weniger Pflege/Wartung) und oft auch bessere Kommunikation (gemeinsame Fahrten). Der scheinbare Verlust führt zu einem tatsächlichen Gewinn.
Kapitel 43
Das Allerweichste auf Erden
überholt das Allerhärteste auf Erden.
Das Nichtseiende dringt auch noch ein in das,
was keinen Zwischenraum hat.
Daran erkennt man den Wert des Nicht-Handelns.
Die Belehrung ohne Worte, den Wert des Nicht-Handelns
erreichen nur wenige auf Erden.
Das Allerweichste auf der Welt
überwindet das Allerhärteste.
Das Nicht-Materielle kann auch dort eindringen,
wo es keinen Raum gibt.
Daran erkennt man den Wert des Nicht-Handelns.
Die Lehre ohne Worte und den Wert des Nicht-Handelns
verstehen nur wenige Menschen.
Grundgedanke: Das scheinbar Schwache kann das scheinbar Starke überwinden. Das Nicht-Handeln ist oft wirksamer als das Handeln.
Beispiel: Wasser ist weich und nachgiebig, höhlt aber mit der Zeit den härtesten Stein aus. Ähnlich kann ein sanfter, beharrlicher Mensch oft mehr erreichen als ein aggressiver. Eine Mutter, die geduldig zuhört, anstatt zu schimpfen, erreicht oft eine tiefere Verhaltensänderung bei ihrem Kind.
Kapitel 44
Der Name oder die Person:
was steht näher?
Die Person oder der Besitz:
was ist mehr?
Gewinnen oder verlieren:
was ist schlimmer?
Nun aber:
Wer sein Herz an andres hängt,
verbraucht notwendig Großes.
Wer viel sammelt,
verliert notwendig Wichtiges.
Wer sich genügen lässet,
kommt nicht in Schande.
Wer Einhalt zu tun weiß,
kommt nicht in Gefahr
und kann so ewig dauern.
Was ist dir wichtiger: dein Ruf oder deine Person?
Was bedeutet dir mehr: deine Person oder dein Besitz?
Was ist schlimmer: zu gewinnen oder zu verlieren?
Bedenke:
Wer zu viel an anderen hängt,
verbraucht viel Energie.
Wer zu viel sammelt,
verliert umso mehr.
Wer mit dem Erreichten zufrieden ist,
kennt keine Schande.
Wer weiß, wann es genug ist,
gerät nicht in Gefahr
und kann so lange bestehen.
Grundgedanke: Zufriedenheit ist wichtiger als endloses Streben. Zu wissen, wann es genug ist, bringt Sicherheit.
Beispiel: Zwei Kollegen: Einer arbeitet ständig Überstunden für Beförderungen und mehr Geld, vernachlässigt dabei Gesundheit und Familie. Der andere arbeitet effizient während der regulären Arbeitszeit, lehnt gelegentlich Überstunden ab und genießt sein ausgewogenes Leben. Während der Erste nie zufrieden ist und immer mehr will, genießt der Zweite sein Leben und bleibt gesünder und glücklicher.
Kapitel 45
Große Vollendung muß wie unzulänglich erscheinen,
so wird sie unendlich in ihrer Wirkung.
Große Fülle muß wie strömend erscheinen,
so wird sie unerschöpflich in ihrer Wirkung.
Große Geradheit muß wie krumm erscheinen.
Große Begabung muß wie dumm erscheinen.
Große Beredsamkeit muß wie stumm erscheinen.
Bewegung überwindet die Kälte.
Stille überwindet die Hitze.
Reinheit und Stille sind der Welt Richtmaß.
Wahre Vollkommenheit erscheint wie unvollkommen,
aber ihre Wirkung ist unendlich.
Wahre Fülle erscheint wie leer,
aber ihre Wirkung ist unerschöpflich.
Wahre Geradheit erscheint wie krumm.
Wahre Klugheit erscheint wie dumm.
Wahre Beredsamkeit erscheint wie Stille.
Bewegung überwindet Kälte.
Ruhe überwindet Hitze.
Klarheit und Stille sind der Maßstab für die Welt.
Grundgedanke: Wahre Qualität erscheint oft unspektakulär oder sogar mangelhaft, ist aber in Wirklichkeit tiefer und nachhaltiger.
Beispiel: Ein erfahrener Handwerker arbeitet scheinbar langsamer und weniger beeindruckend als ein jüngerer Kollege, der mit großen Gesten und schnellen Bewegungen arbeitet. Doch das Ergebnis des älteren Handwerkers hält länger, hat weniger Fehler und zeigt seine wahre Meisterschaft gerade in der Zurückhaltung und scheinbaren Einfachheit.
Kapitel 46
Wenn der Sinn herrscht auf Erden,
so tut man die Rennpferde ab zum Dungführen.
Wenn der Sinn abhanden ist auf Erden,
so werden Kriegsrosse gezüchtet auf dem Anger.
Es gibt keine größere Sünde als viele Wünsche.
Es gibt kein größeres Übel als kein Genüge kennen.
Es gibt keinen größeren Fehler als haben wollen.
Darum:
Das Genügen der Genügsamkeit ist dauerndes Genügen.
In friedlichen Zeiten werden Pferde für die Landwirtschaft genutzt.
In Kriegszeiten werden Pferde für Schlachten gezüchtet.
Es gibt keinen größeren Fehler als zu viele Wünsche zu haben.
Es gibt kein größeres Problem als nie zufrieden zu sein.
Es gibt keinen schlimmeren Irrtum als immer mehr haben zu wollen.
Daher:
Wahre Zufriedenheit liegt darin, mit dem zufrieden zu sein, was man hat.
Grundgedanke: Zufriedenheit und Genügsamkeit bringen mehr Frieden als ständiges Streben nach mehr.
Beispiel: Ein Mensch, der einen bescheidenen Mittelklassewagen fährt und damit zufrieden ist, lebt oft stressfreier als jemand, der sich für ein Luxusauto verschuldet und ständig um Status und Finanzierung besorgt ist. Die Freude am Fahren selbst ist für beide gleich, aber die innere Ruhe des Zufriedenen ist ein zusätzlicher Gewinn.
Kapitel 47
Ohne aus der Tür zu gehen,
kennt man die Welt.
Ohne aus dem Fenster zu schauen,
sieht man den Sinn des Himmels.
Je weiter einer hinausgeht,
desto geringer wird sein Wissen.
Darum braucht der Berufene nicht zu gehen
und weiß doch alles.
Er braucht nicht zu sehen
und ist doch klar.
Er braucht nichts zu machen
und vollendet doch.
Ohne aus dem Haus zu gehen, kannst du die Welt verstehen.
Ohne aus dem Fenster zu schauen, kannst du den Himmel begreifen.
Je weiter du reist, desto weniger weißt du wirklich.
Der weise Mensch:
- Muss nicht überall hingehen, um alles zu wissen
- Muss nicht alles sehen, um Klarheit zu haben
- Muss nichts erzwingen, um Erfolg zu haben
Grundgedanke: Tiefe Erkenntnis kommt von innen, nicht durch äußere Erfahrungen oder Reisen.
Beispiel: Eine Frau verbringt drei Wochen im Urlaub in einem exotischen Land, macht hunderte Fotos, besucht alle Touristenattraktionen, kommt aber mit wenig echtem Verständnis für die Kultur zurück. Ein Mann liest intensiv über dieses Land, spricht mit einigen dort lebenden Menschen online und entwickelt ein tieferes Verständnis, ohne je dort gewesen zu sein. Das äußere Reisen garantiert kein inneres Verstehen.
48
Wer das Lernen übt, vermehrt täglich.
Wer den Sinn übt, vermindert täglich.
Er vermindert und vermindert,
bis er schließlich ankommt beim Nichtsmachen.
Beim Nichtsmachen bleibt nichts ungemacht.
Das Reich erlangen kann man nur,
wenn man immer frei bleibt von Geschäftigkeit.
Die Vielbeschäftigten sind nicht geschickt,
das Reich zu erlangen.
Wer ständig mehr Wissen anhäuft, vermehrt täglich etwas.
Wer dem natürlichen Weg folgt, vereinfacht täglich etwas.
Er reduziert und reduziert weiter,
bis er zum Nicht-Handeln gelangt.
Durch Nicht-Handeln bleibt nichts ungetan.
Die Welt kann nur gewonnen werden,
wenn man frei von ständiger Geschäftigkeit bleibt.
Menschen, die immer beschäftigt sind,
können die Welt nicht wirklich gewinnen.
Grundgedanke: Vereinfachung führt zu Klarheit und Effektivität, während Anhäufung von Wissen ohne Weisheit zu Überlastung führt.
Beispiel: Ein junger Manager versucht alles zu kontrollieren, studiert jede Managementtheorie und überwacht jedes Detail – und brennt trotzdem aus. Seine ältere Kollegin konzentriert sich auf das Wesentliche, delegiert geschickt und schafft mehr mit weniger Aufwand. Sie hat gelernt, dass weniger oft mehr ist.
Kapitel 49
Der Berufene hat kein eigenes Herz.
Er macht das Herz der Leute zu seinem Herzen.
Zu den Guten bin ich gut,
zu den Nichtguten bin ich auch gut;
denn das Leben ist die Güte.
Zu den Treuen bin ich treu,
zu den Untreuen bin ich auch treu;
denn das Leben ist die Treue.
Der Berufene lebt in der Welt ganz still
und macht sein Herz für die Welt weit.
Die Leute alle blicken und horchen nach ihm.
Und der Berufene nimmt sie alle an als seine Kinder.
Der weise Mensch hat keine festgefahrenen Meinungen.
Er macht die Anliegen der Menschen zu seinen eigenen.
Zu guten Menschen bin ich gut,
zu nicht-so-guten Menschen bin ich auch gut;
denn Güte ist das Wesen des Lebens.
Zu ehrlichen Menschen bin ich ehrlich,
zu unehrlichen Menschen bin ich auch ehrlich;
denn Ehrlichkeit ist das Wesen des Lebens.
Der weise Mensch lebt ruhig in der Welt
und hat ein offenes Herz für alle.
Alle Menschen beobachten ihn und hören auf ihn.
Und er behandelt sie alle wie seine Kinder.
Grundgedanke: Der weise Mensch bleibt unparteiisch und behandelt alle mit gleicher Güte, unabhängig von ihrem Verhalten.
Beispiel: Eine Lehrerin hat in ihrer Klasse sowohl fleißige als auch schwierige Schüler. Anstatt nur die Fleißigen zu loben und die Schwierigen zu tadeln, sucht sie bei jedem Schüler nach seinen Stärken. Sie zeigt dem rebellischen Kind genauso viel Respekt wie dem folgsamen und findet so einen Weg zu allen Herzen. Durch ihre unparteiische Haltung gewinnt sie den Respekt der gesamten Klasse.
Kapitel 50
Ausgehen ist Leben, eingehen ist Tod.
Gesellen des Lebens gibt es drei unter zehn,
Gesellen des Todes gibt es drei unter zehn.
Menschen, die leben und dabei sich auf den Ort des Todes zubewegen,
gibt es auch drei unter zehn.
Was ist der Grund davon?
Weil sie ihres Lebens Steigerung erzeugen wollen.
Ich habe wohl gehört, wer gut das Leben zu führen weiß,
der wandert über Land und trifft nicht Nashorn noch Tiger.
Er schreitet durch ein Heer und meidet nicht Panzer und Waffen.
Das Nashorn findet nichts, worein es sein Hörn bohren kann.
Der Tiger findet nichts, darein er seine Krallen schlagen kann.
Die Waffe findet nichts, das ihre Schärfe aufnehmen kann.
Warum das?
Weil er keine sterbliche Stelle hat.
Leben bedeutet ins Leben treten, Tod bedeutet zum Tod gehen.
Drei von zehn Menschen folgen dem Leben.
Drei von zehn Menschen folgen dem Tod.
Drei von zehn Menschen leben, bewegen sich aber Richtung Tod.
Warum ist das so?
Weil sie zu intensiv leben wollen.
Ich habe gehört, wer wirklich zu leben versteht,
wandert sicher durch gefährliche Gebiete.
Er geht unbeschadet durch ein Schlachtfeld.
Das Nashorn findet keine Stelle zum Zustechen.
Der Tiger findet keine Stelle zum Zupacken.
Die Waffen finden keine Stelle zum Eindringen.
Warum ist das so?
Weil er keine Angriffsfläche bietet.
Grundgedanke: Wer in Harmonie mit dem natürlichen Weg lebt, minimiert Angriffsflächen und bleibt selbst in Gefahren geschützt.
Beispiel: In einem von Büropolitik geprägten Unternehmen gibt es einen Mitarbeiter, der weder an Machtspielen teilnimmt noch Partei ergreift. Er erledigt seine Arbeit exzellent, bleibt freundlich zu allen und hält sich von Tratsch fern. Während um ihn herum Kollegen in Konflikte geraten und ihren Job verlieren, bleibt er unberührt von den Turbulenzen – nicht weil er sich versteckt, sondern weil er keine Angriffsfläche bietet.
Kapitel 51
Der Sinn erzeugt.
Das Leben nährt.
Die Umgebung gestaltet.
Die Einflüsse vollenden.
Darum ehren alle Wesen den Sinn
und schätzen das Leben.
Der Sinn wird geehrt,
das Leben wird geschätzt
ohne äußere Ernennung, ganz von selbst.
Also: der Sinn erzeugt, das Leben nährt,
läßt wachsen, pflegt,
vollendet, hält,
bedeckt und schirmt.
Der natürliche Weg bringt alles hervor.
Die Lebenskraft nährt alles.
Die Umgebung formt alles.
Die Umstände vollenden alles.
Deshalb respektieren alle Wesen den natürlichen Weg
und schätzen die Lebenskraft.
Der Weg wird nicht durch Befehle respektiert,
die Lebenskraft nicht durch Anordnungen geschätzt –
das geschieht ganz natürlich.
Also: Der natürliche Weg erschafft,
die Lebenskraft nährt,
lässt wachsen, entwickelt,
vollendet, erhält,
beschützt und bewahrt.
Grundgedanke: Die natürliche Ordnung bringt alles hervor und nährt es, ohne Kontrolle oder Anspruch.
Beispiel: Zwei Eltern erziehen ihre Kinder unterschiedlich: Die ersten kontrollieren jeden Aspekt des Lebens ihrer Kinder – Ernährung, Freunde, Hobbys, Lernplan – und erzeugen Stress und Rebellion. Die zweiten schaffen einen liebevollen Rahmen mit wenigen, aber klaren Grenzen und lassen ihre Kinder darin frei wachsen. Wie die Natur selbst, nähren sie ohne zu kontrollieren und ernten Vertrauen und natürliche Entwicklung.
Kapitel 52
Die Welt hat einen Anfang,
das ist die Mutter der Welt.
Wer die Mutter findet,
um ihre Söhne zu kennen,
wer ihre Söhne kennt
und sich wieder zur Mutter wendet,
der kommt sein Leben lang nicht in Gefahr.
Wer seinen Mund schließt
und seine Pforten zumacht,
der kommt sein Leben lang nicht in Mühen.
Wer seinen Mund auftut
und seine Geschäfte in Ordnung bringen will,
dem ist sein Leben lang nicht zu helfen.
Das Kleinste sehen heißt klar sein.
Die Weisheit wahren heißt stark sein.
Wenn man sein Licht benützt,
um zu dieser Klarheit zurückzukehren,
so bringt man seine Person nicht in Gefahr.
Das heißt die Hülle der Ewigkeit.
Die Welt hat einen Ursprung,
der wie eine Mutter für alles ist.
Wer diesen Ursprung kennt
und dadurch alle Dinge versteht,
wer alle Dinge versteht
und zum Ursprung zurückkehrt,
der bleibt sein Leben lang geschützt.
Wer zurückhaltend mit Worten ist
und seine Sinne unter Kontrolle hat,
der wird sein Leben lang keine Schwierigkeiten haben.
Wer ständig redet
und alles regeln will,
dem kann nicht geholfen werden.
Das Feine wahrnehmen bedeutet Klarheit.
Die innere Kraft bewahren bedeutet Stärke.
Wenn du dein inneres Licht nutzt,
um zur Klarheit zurückzukehren,
bringst du dich nicht in Gefahr.
Das ist der Weg zur Beständigkeit.
Grundgedanke: Wer seine Wurzeln kennt und zu ihnen zurückkehrt, findet Schutz. Zurückhaltung ist stärker als ständige Aktivität.
Beispiel: Eine Geschäftsfrau ist ständig erreichbar, beantwortet E-Mails rund um die Uhr und nimmt an jedem Meeting teil. Sie brennt aus. Ihr Kollege schaltet nach der Arbeit konsequent sein Handy ab, nimmt sich Zeit für Meditation und Familie und wählt seine Meetings sorgfältig aus. Er behält langfristig seine Kraft und Klarheit. Durch die Rückkehr zu seinen Wurzeln und die Kontrolle seiner „Tore“ schützt er seine Energie.
Kapitel 53
Wenn ich wirklich weiß, was es heißt,
im großen Sinn zu leben,
so ist es vor allem die Geschäftigkeit,
die ich fürchte.
Wo die großen Straßen schön und eben sind,
aber das Volk Seitenwege liebt;
wo die Hofgesetze streng sind,
aber die Felder voll Unkraut stehen;
wo die Scheunen ganz leer sind,
aber die Kleidung schmuck und prächtig ist;
wo jeder ein scharfes Schwert im Gürtel trägt;
wo man heikel ist im Essen und Trinken
und Güter im Überfluß sind:
da herrscht Verwirrung, nicht Regierung.
Wenn ich wirklich weiß, was es bedeutet,
dem natürlichen Weg zu folgen,
dann fürchte ich vor allem hektische Geschäftigkeit.
Wo die Hauptstraßen perfekt ausgebaut sind,
aber die Menschen Schleichwege bevorzugen;
wo der Regierungspalast glänzt,
aber die Felder voller Unkraut stehen;
wo die Speicher leer sind,
aber die Kleidung der Herrschenden prunkvoll ist;
wo jeder eine Waffe trägt;
wo die Reichen in Luxus schwelgen,
während es an Grundnahrungsmitteln mangelt:
Da herrscht Chaos, nicht Ordnung.
Grundgedanke: Echte Führung zeigt sich in Substanz, nicht in Oberfläche. Prunk und leere Straßen sind Zeichen von Misswirtschaft.
Beispiel: Ein Bürgermeister gibt Millionen für ein glänzendes neues Rathaus aus, während die Straßen verfallen und Schulen unterfinanziert sind. Ein anderer Bürgermeister einer Nachbarstadt verzichtet auf ein luxuriöses Büro, investiert aber in gute Infrastruktur und Bildung. Nach außen wirkt die erste Stadt beeindruckender, aber die Menschen ziehen zunehmend in die zweite, weil dort das Leben besser ist.
Kapitel 54
Was gut gepflanzt ist, wird nicht ausgerissen.
Was gut festgehalten wird, wird nicht entgehen.
Wer sein Gedächtnis Söhnen und Enkeln hinterläßt,
hört nicht auf.
Wer seine Person gestaltet, dessen Leben wird wahr.
Wer seine Familie gestaltet, dessen Leben wird völlig.
Wer seine Gemeinde gestaltet, dessen Leben wird wachsen.
Wer sein Land gestaltet, dessen Leben wird reich.
Wer die Welt gestaltet, dessen Leben wird weit.
Darum: Nach deiner Person beurteile die Person des andern.
Nach deiner Familie beurteile die Familie der andern.
Nach deiner Gemeinde beurteile die Gemeinde der andern.
Nach deinem Land beurteile das Land der andern.
Nach deiner Welt beurteile die Welt der andern.
Wie weiß ich die Beschaffenheit der Welt?
Eben durch dies.
Was gut verwurzelt ist, kann nicht entwurzelt werden.
Was richtig festgehalten wird, geht nicht verloren.
Wer gute Werte an die nächsten Generationen weitergibt,
lebt in ihnen weiter.
Wer an sich selbst arbeitet, entwickelt wahre Kraft.
Wer seine Familie pflegt, schafft Fülle.
Wer seiner Gemeinschaft dient, schafft Wachstum.
Wer sein Land gut führt, schafft Wohlstand.
Wer mit Weisheit handelt, wirkt weit über sich hinaus.
Darum: Beurteile andere, wie du dich selbst beurteilst.
Beurteile andere Familien, wie du deine eigene beurteilst.
Beurteile andere Gemeinschaften, wie du deine eigene beurteilst.
Beurteile andere Länder, wie du dein eigenes beurteilst.
Beurteile die Welt, wie du deine eigene Welt beurteilst.
Woher weiß ich, wie die Welt beschaffen ist?
Durch diese innere Erkenntnis.
Grundgedanke: Wahres Wachstum beginnt beim Individuum und strahlt dann nach außen aus. Wir können andere nur durch Selbsterkenntnis verstehen.
Beispiel: Eine Mutter versteht ihre Teenagertochter nicht und gerät ständig mit ihr in Konflikt. Als sie beginnt, ihre eigenen Teenagerjahre zu reflektieren und ihre damaligen Ängste und Sehnsüchte zu erinnern, entwickelt sie plötzlich mehr Empathie für ihre Tochter. Indem sie bei sich selbst anfängt und ihre eigenen Erfahrungen als Maßstab nimmt, verbessert sie die Beziehung zu ihrer Tochter.
Kapitel 55
Wer festhält des Lebens Völligkeit,
der gleicht einem neugeborenen Kindlein:
Giftige Schlangen stechen es nicht.
Reißende Tiere packen es nicht.
Raubvögel stoßen nicht nach ihm.
Seine Knochen sind schwach, seine Sehnen weich,
und doch kann es fest zugreifen.
Es weiß noch nichts von Mann und Weib,
und doch regt sich sein Blut,
weil es des Samens Fülle hat.
Es kann den ganzen Tag schreien,
und doch wird seine Stimme nicht heiser,
weil es des Friedens Fülle hat.
Den Frieden erkennen heißt ewig sein.
Die Ewigkeit erkennen heißt klar sein.
Das Leben mehren nennt man Glück.
Für sein Begehren seine Kraft einsetzen nennt man stark.
Sind die Dinge stark geworden, altern sie.
Denn das ist Wider- Sinn.
Und Wider- Sinn ist nahe dem Ende.
Wer die Fülle des Lebens bewahrt,
ist wie ein neugeborenes Kind:
Giftige Schlangen beißen es nicht.
Wilde Tiere greifen es nicht an.
Raubvögel attackieren es nicht.
Seine Knochen sind weich, seine Muskeln schwach,
doch sein Griff ist fest.
Es weiß noch nichts von Sexualität,
doch es ist voller Lebensenergie.
Es kann den ganzen Tag schreien,
ohne heiser zu werden,
weil es in völliger Harmonie ist.
Diese Harmonie erkennen heißt, Beständigkeit zu erlangen.
Diese Beständigkeit erkennen heißt, Klarheit zu gewinnen.
Das Leben zu verbessern nennt man Glück.
Die eigenen Wünsche mit Willenskraft durchsetzen nennt man Stärke.
Wenn Dinge ihren Höhepunkt erreichen, beginnen sie zu altern.
Das ist gegen den natürlichen Weg.
Und was gegen den natürlichen Weg ist, endet bald.
Grundgedanke: Natürliche Kraft und Harmonie zeigen sich in der Unschuld und Vitalität eines Kindes. Übermäßiges Streben führt zu vorzeitigem Verfall.
Beispiel: Ein 45-jähriger Manager ist besessen davon, jünger zu wirken, nimmt leistungssteigernde Mittel, arbeitet ohne Pause und geht täglich ins Fitnessstudio. Trotz teurer Anti-Aging-Produkte sieht er erschöpft aus und erleidet einen Herzinfarkt. Seine gleichaltrige Freundin akzeptiert ihr Alter, bleibt aktiv, aber ohne Zwang, ruht sich aus, wenn nötig, und strahlt eine natürliche Vitalität aus, die ihr junges Aussehen erhält.
Kapitel 56
Der Wissende redet nicht.
Der Redende weiß nicht.
Man muß seinen Mund schließen
und seine Pforten zumachen,
seinen Scharfsinn abstumpfen,
seine wirren Gedanken auflösen,
sein Licht mäßigen,
sein Irdisches gemeinsam machen.
Das heißt verborgene Gemeinsamkeit (mit dem Sinn).
Wer die hat, den kann man nicht beeinflussen durch Liebe
und kann ihn nicht beeinflussen durch Kälte.
Man kann ihn nicht beeinflussen durch Gewinn
und kann ihn nicht beeinflussen durch Schaden.
Man kann ihn nicht beeinflussen durch Herrlichkeit
und kann ihn nicht beeinflussen durch Niedrigkeit.
Darum ist er der Herrlichste auf Erden.
Wer wirklich weiß, spricht nicht viel.
Wer viel spricht, weiß nicht wirklich.
Sei zurückhaltend mit Worten,
halte deine Sinne unter Kontrolle,
dämpfe deine Schärfe,
löse deine Verwirrung auf,
mildere dein Strahlen,
werde eins mit dem Alltäglichen.
Das nennt man tiefe Verbundenheit mit dem Weg.
Wer diese Verbundenheit hat, den kann nichts beeinflussen:
- Weder Zuneigung noch Ablehnung
- Weder Vorteil noch Nachteil
- Weder Ehre noch Schande Deshalb ist er der Wertvollste auf der Welt.
Grundgedanke: Wahre Weisheit zeigt sich in Stille und Gelassenheit. Wer zu viel redet, hat oft wenig zu sagen.
Beispiel: In einer hitzigen Teambesprechung reden alle durcheinander, versuchen zu beeindrucken und ihre Ideen zu verkaufen. Eine ältere Kollegin sitzt ruhig da, hört zu und spricht erst, als alle anderen fertig sind. Ihre wenigen, wohl überlegten Worte bringen die Lösung, nach der alle gesucht haben. Ihre Gelassenheit macht sie unangreifbar für die üblichen Büropolitik-Spielchen.
Kapitel 57
Zur Leitung des Staates braucht man Regierungskunst,
zum Waffenhandwerk braucht man
außerordentliche Begabung.
Um aber die Welt zu gewinnen,
muß man frei sein von Geschäftigkeit.
Woher weiß ich, daß es also mit der Welt steht?
je mehr es Dinge in der Welt gibt, die man nicht tun darf,
desto mehr verarmt das Volk.
je mehr die Menschen scharfe Geräte haben,
desto mehr kommen Haus und Staat ins Verderben.
je mehr die Leute Kunst und Schlauheit pflegen,
desto mehr erheben sich böse Zeichen.
je mehr die Gesetze und Befehle prangen,
desto mehr gibt es Diebe und Räuber.
Darum spricht ein Berufener:
Wenn wir nichts machen,
so wandelt sich von selbst das Volk.
Wenn wir die Stille lieben,
so wird das Volk von selber recht.
Wenn wir nichts unternehmen,
so wird das Volk von selber reich.
Wenn wir keine Begierden haben,
so wird das Volk von selber einfältig.
Um einen Staat zu führen, braucht man kluge Politik.
Um Krieg zu führen, braucht man ungewöhnliche Strategien.
Aber um die Welt zu gewinnen,
muss man Zurückhaltung üben.
Woher weiß ich, dass das stimmt?
Je mehr Verbote und Einschränkungen es gibt,
desto ärmer werden die Menschen.
Je mehr Waffen die Menschen haben,
desto chaotischer wird das Land.
Je mehr Schlauheit und Tricks die Menschen anwenden,
desto seltsamer werden die Ereignisse.
Je mehr Gesetze und Regeln verkündet werden,
desto mehr Diebe und Verbrecher gibt es.
Daher sagt der weise Mensch:
Wenn ich nicht eingreife,
entwickeln sich die Menschen von selbst.
Wenn ich Stille und Ruhe schätze,
werden die Menschen von selbst rechtschaffen.
Wenn ich nicht kontrolliere,
werden die Menschen von selbst wohlhabend.
Wenn ich keine Begierden habe,
werden die Menschen von selbst einfach und natürlich.
Grundgedanke: Je mehr Kontrolle und Regeln, desto mehr Probleme. Natürliche Entwicklung entsteht durch minimales Eingreifen.
Beispiel: Ein Parkverwalter setzt strengste Regeln durch: Kein Ballspielen, kein Picknicken auf dem Rasen, keine Hunde ohne Leine. Der Park wird immer leerer und verfällt. In einem anderen Park gibt es nur wenige grundlegende Regeln, aber der Verwalter spricht mit den Besuchern, fördert Gemeinschaftsevents und schafft eine Atmosphäre gegenseitigen Respekts. Dieser Park blüht auf, weil die Menschen sich für ihn verantwortlich fühlen, statt gegen Regeln zu rebellieren.
Kapitel 58
Wessen Regierung still und unaufdringlich ist,
dessen Volk ist aufrichtig und ehrlich.
Wessen Regierung scharfsinnig und stramm ist,
dessen Volk ist hinterlistig und unzuverlässig.
Das Unglück ist’s, worauf das Glück beruht;
das Glück ist es, worauf das Unglück lauert.
Wer erkennt aber, daß es das Höchste ist,
wenn nicht geordnet wird?
Denn sonst verkehrt die Ordnung sich in Wunderlichkeiten,
und das Gute verkehrt sich in Aberglaube.
Und die Tage der Verblendung des Volkes
dauern wahrlich lange.
Also auch der Berufene:
Er ist Vorbild, ohne zu beschneiden,
er ist gewissenhaft, ohne zu verletzen,
er ist echt, ohne Willkürlichkeiten,
er ist licht, ohne zu blenden.
Wenn die Regierung zurückhaltend und bescheiden ist,
sind die Menschen ehrlich und aufrichtig.
Wenn die Regierung streng kontrollierend ist,
werden die Menschen hinterlistig und unehrlich.
Glück entsteht aus Unglück;
Unglück lauert im Glück.
Wer erkennt, dass es am besten ist,
nicht alles zu regeln?
Denn Ordnung kann in Zwang umschlagen,
und Gutes kann zu Aberglauben werden.
Die Verwirrung der Menschen
dauert schon sehr lange an.
Daher ist der weise Mensch:
- Ein Vorbild, ohne zu bevormunden
- Aufrichtig, ohne zu verletzen
- Ehrlich, ohne starr zu sein
- Erhellend, ohne zu blenden
Grundgedanke: Sanfte Führung schafft Ehrlichkeit, strenge Kontrolle erzeugt Hinterlist. Im Glück lauert Unglück und umgekehrt.
Beispiel: Ein Teamleiter kontrolliert akribisch die Arbeitszeiten und Aktivitäten seiner Mitarbeiter. Sie beginnen, Wege zu finden, das System zu umgehen, und die Produktivität leidet. In einem anderen Team schafft die Leiterin eine Kultur des Vertrauens mit flexiblen Arbeitszeiten und Eigenverantwortung. Die Mitarbeiter fühlen sich wertgeschätzt und arbeiten ehrlich und motiviert – oft sogar über das Geforderte hinaus.
Kapitel 59
Bei der Leitung der Menschen und beim Dienst des Himmels
gibt es nichts Besseres als Beschränkung.
Denn nur durch Beschränkung
kann man frühzeitig die Dinge behandeln.
Durch frühzeitiges Behandeln der Dinge
sammelt man doppelt die Kräfte des Lebens.
Durch diese verdoppelten Kräfte des Lebens
ist man jeder Lage gewachsen.
Ist man jeder Lage gewachsen,
so kennt niemand unsere Grenzen.
Wenn niemand unsere Grenzen kennt,
können wir die Welt besitzen.
Besitzt man die Mutter der Welt,
so gewinnt man ewige Dauer.
Das ist der Sinn der tiefen Wurzel,
des ewigen Daseins
des festen Grundes,
und des dauernden Schauens.
Um Menschen zu führen und im Einklang mit dem Himmel zu leben,
ist nichts besser als Mäßigung.
Denn nur durch Mäßigung
kann man frühzeitig handeln.
Durch frühzeitiges Handeln
sammelt man innere Stärke.
Mit dieser inneren Stärke
ist man allen Situationen gewachsen.
Wenn man allen Situationen gewachsen ist,
kennt niemand deine Grenzen.
Wenn niemand deine Grenzen kennt,
kannst du die Welt lenken.
Wenn du die Grundprinzipien der Welt verstehst,
kannst du lange bestehen.
Das ist der Weg der tiefen Wurzeln,
des stabilen Fundaments
und des langen Lebens.
Grundgedanke: Mäßigung und vorausschauendes Handeln schaffen Stärke und Beständigkeit.
Beispiel: Ein junges Paar kauft sofort das größtmögliche Haus mit maximalem Kredit, fährt in teure Urlaube und lebt immer am Limit ihrer Finanzen. Bei der ersten Wirtschaftskrise geraten sie in ernste Schwierigkeiten. Ein anderes Paar beginnt mit einer kleineren Wohnung, spart konsequent und investiert klug. Sie genießen das Leben, aber mit Maß. Als die gleiche Krise kommt, haben sie Reserven und können sogar Gelegenheiten nutzen, während andere kämpfen.
Kapitel 60
Ein großes Land muß man leiten,
wie man kleine Fischlein brät.
Wenn man die Welt verwaltet nach dem Sinn,
dann gehen die Abgeschiedenen nicht als Geister um.
Nicht, daß die Abgeschiedenen keine Geister wären,
doch ihre Geister schaden den Menschen nicht.
Nicht nur die Geister schaden den Menschen nicht:
auch der Berufene schadet ihnen nicht.
Wenn nun diese beiden Mächte einander nicht verletzen,
so vereinigen sich ihre Lebenskräfte in ihrer Wirkung.
Ein großes Land sollte man führen,
wie man kleine Fische vorsichtig brät.
Wenn man die Welt nach natürlichen Prinzipien verwaltet,
werden negative Kräfte nicht störend wirken.
Nicht, dass es keine negativen Kräfte gäbe,
aber sie werden den Menschen nicht schaden.
Nicht nur diese Kräfte schaden den Menschen nicht:
auch der weise Mensch schadet ihnen nicht.
Wenn diese beiden Mächte einander nicht bekämpfen,
fließt ihre Kraft harmonisch zusammen und nutzt allen.
Grundgedanke: Große Systeme sollten mit Behutsamkeit geführt werden. Wenn gegensätzliche Kräfte in Harmonie gehalten werden, entsteht Stabilität.
Beispiel: Der neue CEO eines großen Unternehmens kommt mit radikalen Änderungsplänen und will alles sofort umkrempeln. Er ignoriert die bestehende Kultur und stößt auf massiven Widerstand, der schließlich zu seinem Scheitern führt. Seine Nachfolgerin geht behutsam vor, respektiert die Geschichte des Unternehmens, führt Neuerungen schrittweise ein und schafft einen Dialog zwischen Traditionalisten und Innovatoren. Durch dieses vorsichtige „Braten kleiner Fische“ gelingt ihr die Transformation, die ihrem Vorgänger verwehrt blieb.
Kapitel 61
Indem ein großes Reich sich stromabwärts hält,
wird es die Vereinigung der Welt.
Es ist das Weibliche der Welt.
Das Weibliche siegt immer
durch seine Stille über das Männliche.
Durch seine Stille hält es sich unten.
Wenn so das große Reich sich unter das kleine stellt,
so gewinnt es dadurch das kleine Reich.
Wenn das kleine Reich sich unter das große stellt,
so wird es dadurch von dem großen Reich gewonnen.
So wird das eine dadurch, daß es sich unten hält, gewinnen,
und das andere dadurch, daß es sich unten hält, gewonnen.
Das große Reich will nichts anderes
als die Menschen vereinigen und nähren.
Das kleine Reich will nichts anderes
als sich beteiligen am Dienst der Menschen.
So erreicht jedes, was es will;
aber das große muß unten bleiben.
Ein großes Land verhält sich wie ein Fluss, der ins Tal fließt,
und wird so zum Zentrum der Welt.
Es ist wie das Weibliche in der Welt.
Das Weibliche gewinnt immer
durch Ruhe und Zurückhaltung.
Durch Zurückhaltung nimmt es eine niedrigere Position ein.
Wenn ein großes Land sich einem kleineren unterordnet,
gewinnt es das Vertrauen des kleinen Landes.
Wenn ein kleines Land sich einem größeren unterordnet,
wird es vom großen Land respektiert.
So kann das eine durch Bescheidenheit gewinnen,
und das andere durch Bescheidenheit Vertrauen erlangen.
Das große Land will nur
die Menschen vereinen und für sie sorgen.
Das kleine Land will nur
seinen Teil zum Wohlergehen der Menschen beitragen.
Um ihre Ziele zu erreichen,
muss besonders das große Land Bescheidenheit zeigen.
Grundgedanke: Bescheidenheit und Zurückhaltung sind stärker als Dominanz. Gerade große Mächte sollten sich unterordnen können.
Beispiel: Eine erfolgreiche Teamleiterin mit langjähriger Erfahrung tritt in ein neues Projekt ein. Statt sofort ihre Autorität zu demonstrieren und alle Entscheidungen zu treffen, hört sie zuerst auf die Ideen ihrer Teammitglieder und fragt nach deren Expertise. Durch diese Zurückhaltung gewinnt sie deren Vertrauen und Respekt, und das Team arbeitet letztlich effektiver zusammen als unter einer kontrollierenden Führung.
Kapitel 62
Der Sinn ist aller Dinge Heimat,
der guten Menschen Schatz,
der nichtguten Menschen Schutz.
Mit schönen Worten kann man zu Markte gehen.
Mit ehrenhaftem Wandel
kann man sich vor ändern hervortun.
Aber die Nichtguten unter den Menschen,
warum sollte man die wegwerfen?
Darum ist der Herrscher eingesetzt,
und die Fürsten haben ihr Amt.
Ob man auch Zepter von Juwelen hätte,
um sie im feierlichen Viererzug zu übersenden,
nicht kommt das der Gabe gleich,
wenn man diesen Sinn
auf seinen Knien dem Herrscher darbringt.
Warum hielten die Alten diesen Sinn so wert?
Ist es nicht deshalb, daß es von ihm heißt:
»Wer bittet, der empfängt;
wer Sünden hat, dem werden sie vergeben«?
Darum ist er das Köstlichste auf Erden.
Der natürliche Weg ist die Zuflucht aller Dinge,
ein Schatz für gute Menschen
und ein Schutz für die, die Fehler machen.
Schöne Worte können Anerkennung bringen.
Respektvolles Verhalten kann Respekt ernten.
Aber warum sollten wir Menschen mit Fehlern ablehnen?
Deshalb gibt es Führungskräfte und Verantwortliche.
Selbst wenn man wertvolle Geschenke hätte,
um sie feierlich zu überreichen,
nichts ist wertvoller als dieser natürliche Weg,
den man einem Anführer als Rat anbieten kann.
Warum haben die Alten diesen Weg so geschätzt?
Sagten sie nicht:
„Wer sucht, der findet;
wer Fehler macht, dem wird vergeben“?
Deshalb ist er das Wertvollste auf der Welt.
Grundgedanke: Der natürliche Weg ist ein Schatz für alle und ein Schutz selbst für diejenigen, die Fehler machen. Keiner sollte ausgegrenzt werden.
Beispiel: In einer Schulklasse gibt es einen Schüler, der durch Störungen auffällt. Anstatt ihn zu bestrafen oder auszuschließen, gibt die Lehrerin ihm besondere Aufgaben und Verantwortung. Sie erkennt sein Bedürfnis nach Aufmerksamkeit und seinen Wert für die Klassengemeinschaft. Mit der Zeit bessert sich sein Verhalten, und er trägt positiv zur Gruppe bei, statt ihr zu schaden.
Kapitel 63
Wer das Nichthandeln übt,
sich mit Beschäftigungslosigkeit beschäftigt,
Geschmack findet an dem, was nicht schmeckt:
der sieht das Große im Kleinen und das Viele im Wenigen.
Er vergilt Groll durch Leben.
Plane das Schwierige da, wo es noch leicht ist!
Tue das Große da, wo es noch klein ist!
Alles Schwere auf Erden beginnt stets als Leichtes.
Alles Große auf Erden beginnt stets als Kleines.
Darum: Tut der Berufene nie etwas Großes,
so kann er seine großen Taten vollenden.
Wer leicht verspricht,
hält sicher selten Wort.
Wer vieles leicht nimmt,
hat sicher viele Schwierigkeiten.
Darum: Bedenkt der Berufene die Schwierigkeiten,
so hat er nie Schwierigkeiten.
Übe das Nicht-Handeln,
beschäftige dich mit dem Nicht-Beschäftigtsein,
finde Geschmack am Geschmacklosen.
Sieh das Große im Kleinen und das Viele im Wenigen.
Beantworte Feindseligkeit mit Wohlwollen.
Plane Schwieriges, solange es noch einfach ist!
Handle bei großen Dingen, solange sie noch klein sind!
Die schwierigsten Probleme der Welt beginnen als einfache.
Die größten Aufgaben beginnen stets als kleine.
Deshalb handelt der weise Mensch nie großartig,
und kann gerade deshalb Großes erreichen.
Wer leichtfertig verspricht,
hält selten Wort.
Wer alles für einfach hält,
findet am Ende viele Schwierigkeiten.
Deshalb betrachtet der Weise alles als schwierig
und hat dadurch letztlich keine Schwierigkeiten.
Grundgedanke: Handle bei großen Dingen, solange sie noch klein sind. Probleme früh anzugehen ist leichter als später.
Beispiel: Ein kleines Unternehmen bemerkt erste Hinweise auf veränderte Kundenbedürfnisse. Anstatt zu warten, bis die Umsätze einbrechen, passt der Geschäftsführer frühzeitig die Produktpalette an. Was als kleine Anpassung beginnt, bewahrt das Unternehmen später vor einer existenzbedrohenden Krise, während Wettbewerber, die zu spät reagieren, große Probleme bekommen.
Kapitel 64
Was noch ruhig ist, läßt sich leicht ergreifen.
Was noch nicht hervortritt, läßt sich leicht bedenken.
Was noch zart ist, läßt sich leicht zerbrechen.
Was noch klein ist, läßt sich leicht zerstreuen.
Man muß wirken auf das, was noch nicht da ist.
Man muß ordnen, was noch nicht in Verwirrung ist.
Ein Baum von einem Klafter Umfang
entsteht aus einem haarfeinen Hälmchen.
Ein neun Stufen hoher Turm
entsteht aus einem Häufchen Erde.
Eine tausend Meilen weite Reise
beginnt vor deinen Füßen.
Wer handelt, verdirbt es.
Wer festhält, verliert es.
Also auch der Berufene:
Er handelt nicht, so verdirbt er nichts.
Er hält nicht fest, so verliert er nichts.
Die Leute gehen an ihre Sachen,
und immer wenn sie fast fertig sind,
so verderben sie es.
Das Ende ebenso in acht nehmen wie den Anfang,
dann gibt es keine verdorbenen Sachen.
Also auch der Berufene:
Er wünscht Wunschlosigkeit.
Er hält nicht wert schwer zu erlangende Güter.
Er lernt das Nichtlernen.
Er wendet sich zu dem zurück, an dem die Menge vorübergeht.
Dadurch fördert er den natürlichen Lauf der Dinge
und wagt nicht zu handeln.
Was noch ruhig ist, lässt sich leicht handhaben.
Was noch nicht begonnen hat, lässt sich leicht planen.
Was noch zerbrechlich ist, lässt sich leicht brechen.
Was noch klein ist, lässt sich leicht verteilen.
Handele, bevor Probleme entstehen.
Schaffe Ordnung, bevor Chaos ausbricht.
Ein mächtiger Baum
wächst aus einem winzigen Spross.
Ein neunstöckiger Turm
beginnt mit einem Haufen Erde.
Eine Reise von tausend Meilen
beginnt mit dem ersten Schritt.
Wer zu viel eingreift, ruiniert es.
Wer zu sehr festhält, verliert es.
Der weise Mensch:
Er greift nicht zu sehr ein, deshalb ruiniert er nichts.
Er hält nicht zu sehr fest, deshalb verliert er nichts.
Die meisten Menschen scheitern oft,
wenn sie kurz vor dem Ziel sind.
Achte auf das Ende genauso wie auf den Anfang,
dann wirst du nicht scheitern.
Darum strebt der Weise:
Nach Wunschlosigkeit statt nach Wünschen.
Nach dem Einfachen statt nach dem Schwierigen.
Nach dem Verlernen statt nach dem Lernen.
Er wendet sich dem zu, was andere übersehen.
So unterstützt er den natürlichen Lauf der Dinge
und greift nicht unnötig ein.
Grundgedanke: Jede große Reise beginnt mit einem kleinen Schritt. Weise Menschen greifen früh ein und achten sowohl auf den Anfang als auch auf das Ende eines Unternehmens.
Beispiel: Eine Frau beschließt, Marathon zu laufen. Statt sofort mit langen Strecken zu beginnen und sich zu überfordern, fängt sie mit kurzen Läufen an und steigert langsam die Distanz. Sie plant sorgfältig, achtet auf Ernährung und Erholung. Während andere, die zu ehrgeizig beginnen, durch Verletzungen aufgeben müssen, erreicht sie durch diesen behutsamen Aufbau ihr Ziel.
Kapitel 65
Die vor alters tüchtig waren
im Walten nach dem Sinn,
taten es nicht durch Aufklärung des Volkes,
sondern dadurch, daß sie das Volk töricht hielten.
Daß das Volk schwer zu leiten ist,
kommt daher, daß es zuviel weiß.
Darum: Wer durch Wissen den Staat leitet,
ist der Räuber des Staats.
Wer nicht durch Wissen den Staat leitet,
ist das Glück des Staats.
Wer diese beiden Dinge weiß, der hat ein Ideal.
Immer dies Ideal zu kennen, ist verborgenes Leben.
Verborgenes Leben ist tief, weitreichend,
anders als alle Dinge;
aber zuletzt bewirkt es das große Gelingen.
Die alten Weisen,
die nach dem natürlichen Weg lebten,
versuchten nicht, das Volk aufzuklären,
sondern es einfach zu halten.
Die Menschen sind schwer zu führen,
wenn sie zu viel wissen oder zu schlau sein wollen.
Deshalb:
Wer ein Land mit zu viel Wissen regiert,
schadet dem Land.
Wer ein Land mit natürlicher Weisheit regiert,
ist ein Segen für das Land.
Diese beiden Prinzipien zu verstehen ist wichtig.
Diese Prinzipien stets zu beachten führt zu tiefem Verständnis.
Tiefes Verständnis ist weitreichend und grundlegend,
anders als oberflächliches Wissen,
und führt letztendlich zum Erfolg.
Grundgedanke: Zu viel Wissen und Schlauheit können das Leben komplizierter machen. Manchmal ist Einfachheit besser als Überintellektualisierung.
Beispiel: Ein Vater versucht ständig, seiner Tochter mit wissenschaftlichen Erklärungen und pädagogischen Theorien die Welt zu erklären. Seine Frau hingegen lässt das Kind oft selbst entdecken und erklärt Dinge nur, wenn es nötig ist. Das Kind wendet sich zunehmend der Mutter zu, weil es bei ihr natürlicher lernen kann, während die Belehrungen des Vaters es überfordern und den natürlichen Entdeckerdrang hemmen.
Kapitel 66
Daß Ströme und Meere Könige aller Bäche sind,
kommt daher, daß sie sich gut unten halten können.
Darum sind sie die Könige aller Bäche.
Also auch der Berufene:
Wenn er über seinen Leuten stehen will,
so stellt er sich in seinem Reden unter sie.
Wenn er seinen Leuten voran sein will,
so stellt er sich in seiner Person hintan.
Also auch:
Er weilt in der Höhe,
und die Leute werden durch ihn nicht belastet.
Er weilt am ersten Platze,
und die Leute werden von ihm nicht verletzt.
Also auch:
Die ganze Welt ist willig, ihn voranzubringen,
und wird nicht unwillig.
Weil er nicht streitet,
kann niemand auf der Welt mit ihm streiten.
Dass Flüsse und Meere die Herrscher aller Gewässer sind,
liegt daran, dass sie sich an tieferen Stellen befinden.
Darum sind sie die Herrscher aller Gewässer.
So auch der weise Mensch:
Um andere zu führen,
stellt er sich in seinen Worten unter sie.
Um voranzugehen,
stellt er sich persönlich hinter sie.
So kann er eine höhere Position einnehmen,
ohne dass die Menschen sich belastet fühlen.
Er kann vorangehen,
ohne dass die Menschen sich zurückgesetzt fühlen.
Die ganze Welt unterstützt ihn gerne
und wird seiner nicht überdrüssig.
Weil er nicht um Position kämpft,
kann niemand mit ihm um Position kämpfen.
Grundgedanke: Führungskräfte gewinnen durch Dienst und Bescheidenheit die Herzen der Menschen, nicht durch Dominanz.
Beispiel: Zwei Abteilungsleiter haben unterschiedliche Führungsstile: Der erste betont ständig seine Position, sitzt in einem größeren Büro und lässt andere warten. Der zweite arbeitet im selben Raum wie sein Team, hilft bei Engpässen selbst mit und fragt nach den Ideen seiner Mitarbeiter. Bei einer Umstrukturierung unterstützt das Personal den zweiten Leiter einmütig, während der erste kaum Loyalität erfährt.
Kapitel 67
Alle Welt sagt, mein Sinn sei zwar groß,
aber sozusagen unbrauchbar.
Gerade weil er groß ist,
deshalb ist er sozusagen unbrauchbar.
Wenn er brauchbar wäre,
so wäre er längst klein geworden.
Ich habe drei Schätze,
die ich schätze und wahre.
Der eine heißt: die Liebe;
der zweite heißt: die Genügsamkeit;
der dritte heißt: nicht wagen, in der Welt voranzustehen.
Durch Liebe kann man mutig sein,
durch Genügsamkeit kann man weitherzig sein.
Wenn man nicht wagt, in der Welt voranzustehen,
kann man das Haupt der fertigen Menschen sein.
Wenn man nun ohne Liebe mutig sein will,
wenn man ohne Genügsamkeit weitherzig sein will,
wenn man ohne zurückzustehen
vorankommen will:
das ist der Tod.
Wenn man Liebe hat im Kampf,
so siegt man.
Wenn man sie hat bei der Verteidigung,
so ist man unüberwindlich.
Wen der Himmel retten will,
den schützt er durch die Liebe.
Alle Welt sagt, mein Weg sei zwar großartig,
aber anscheinend unpraktisch.
Gerade weil er großartig ist,
scheint er unpraktisch.
Wäre er gewöhnlich,
wäre er längst unbedeutend geworden.
Ich habe drei Schätze,
die ich bewahre und schütze:
Der erste ist Mitgefühl;
der zweite ist Genügsamkeit;
der dritte ist, nicht wichtiger als andere sein zu wollen.
Durch Mitgefühl kann ich mutig sein.
Durch Genügsamkeit kann ich großzügig sein.
Durch Bescheidenheit kann ich führen.
Heutzutage wollen Menschen
mutig sein ohne Mitgefühl,
großzügig sein ohne Genügsamkeit,
führend sein ohne Bescheidenheit.
Das führt ins Verderben.
Mit Mitgefühl wird man im Konflikt siegen
und in der Verteidigung stark sein.
Wen das Schicksal schützen will,
den umgibt es mit Mitgefühl.
Grundgedanke: Die drei wertvollsten Eigenschaften sind Mitgefühl, Genügsamkeit und Bescheidenheit. Diese führen zu wahrer Stärke.
Beispiel: Zwei Nachbarn geraten in einen Streit über eine Grundstücksgrenze. Der eine droht mit Anwälten und betont seinen Einfluss in der Gemeinde. Der andere hört zu, zeigt Verständnis für die Sorgen des Nachbarn und schlägt eine für beide vorteilhafte Lösung vor. Am Ende stimmt der aggressive Nachbar zu, fühlt sich respektiert und die Beziehung verbessert sich sogar – durch Mitgefühl statt Kampf.
Kapitel 68
Wer gut zu führen weiß,
ist nicht kriegerisch.
Wer gut zu kämpfen weiß,
ist nicht zornig.
Wer gut die Feinde zu besiegen weiß,
kämpft nicht mit ihnen.
Wer gut die Menschen zu gebrauchen weiß,
der hält sich unten.
Das ist das Leben, das nicht streitet;
das ist die Kraft, die Menschen zu gebrauchen;
das ist der Pol, der bis zum Himmel reicht.
Ein guter Anführer ist nicht kriegerisch.
Ein guter Kämpfer ist nicht wütend.
Ein guter Sieger kämpft nicht unnötig.
Ein guter Vorgesetzter stellt sich unter seine Mitarbeiter.
Das ist friedvolle Kraft;
das ist die Fähigkeit, mit Menschen zu arbeiten;
das ist im Einklang mit dem Höchsten.
Grundgedanke: Wahre Führung braucht weder Aggression noch Zorn. Der beste Sieger ist der, der nicht kämpfen muss.
Beispiel: Ein erfahrener Verhandlungsführer betritt einen Raum voller aufgebrachter Mitarbeiter, die mit Streik drohen. Statt mit Autorität zu drohen oder Zugeständnisse zu machen, hört er ruhig zu, stellt Fragen und findet die eigentlichen Probleme hinter den Forderungen. Ohne zu kämpfen oder sich zu unterwerfen, entwickelt er Lösungen, die beide Seiten zufriedenstellen.
Kapitel 69
Bei den Soldaten gibt es ein Wort:
Ich wage nicht, den Herrn zu machen,
sondern mache lieber den Gast.
Ich wage nicht, einen Zoll vorzurücken,
sondern ziehe mich lieber einen Fuß zurück.
Das heißt gehen ohne Beine,
fechten ohne Arme,
werfen, ohne anzugreifen,
halten, ohne die Waffen zu gebrauchen.
Es gibt kein größeres Unglück,
als den Feind zu unterschätzen.
Wenn ich den Feind unterschätze,
stehe ich in Gefahr, meine Schätze zu verlieren.
Wo zwei Armeen kämpfend aufeinanderstoßen,
da siegt der, der es schweren Herzens tut.
Im Militär gibt es ein Sprichwort:
„Ich wage nicht, den Angreifer zu spielen,
sondern verhalte mich lieber wie ein Verteidiger.
Ich wage nicht, einen Zentimeter vorzurücken,
sondern ziehe mich lieber einen Meter zurück.“
Das nennt man:
Vorwärtsgehen ohne Marschieren,
Ärmel hochkrempeln ohne Arme zu zeigen,
Festhalten ohne Waffen zu benutzen,
Standhalten ohne Aggression.
Es gibt kein größeres Unglück,
als den Gegner zu unterschätzen.
Wenn ich meinen Gegner unterschätze,
riskiere ich, alles zu verlieren.
Wenn zwei Kräfte aufeinandertreffen,
siegt derjenige, der mit Bedauern handelt.
Grundgedanke: Unterschätze niemals einen Gegner. Defensive Strategien sind oft erfolgreicher als aggressive.
Beispiel: Ein kleines Technologie-Startup tritt gegen einen Marktriesen an. Statt direkt dessen Hauptprodukte anzugreifen, konzentriert sich das Startup auf eine Nische, die der Große vernachlässigt hat. Es rückt langsam vor, vermeidet direkte Konfrontation und baut seine Stärken aus. Als der Große endlich reagiert, hat das kleine Unternehmen bereits eine loyale Kundenbasis und wird schließlich vom Konkurrenten zu einem hohen Preis übernommen.
Kapitel 70
Meine Worte sind sehr leicht zu verstehen,
sehr leicht auszuführen.
Aber niemand auf Erden kann sie verstehen,
kann sie ausführen.
Die Worte haben einen Ahn.
Die Taten haben einen Herrn,
Weil man die nicht versteht,
versteht man mich nicht.
Eben daß ich so selten verstanden werde,
darauf beruht mein Wert.
Darum geht der Berufene im härenen Gewand:
aber im Busen birgt er ein Juwel.
Meine Worte sind sehr leicht zu verstehen
und sehr leicht umzusetzen.
Doch kaum jemand auf der Welt scheint sie zu verstehen
oder umzusetzen.
Worte haben eine Quelle.
Handlungen haben einen Ursprung.
Weil die Menschen diese nicht erkennen,
verstehen sie mich nicht.
Gerade weil ich so selten verstanden werde,
bin ich wertvoll.
Deshalb trägt der Weise einfache Kleidung,
aber bewahrt innere Schätze.
Grundgedanke: Die einfachsten Wahrheiten sind oft am schwersten zu verstehen. Der Weise trägt äußerlich Einfachheit, hat aber inneren Reichtum.
Beispiel: Eine unscheinbare Professorin kommt in einfacher Kleidung zu einem wichtigen Kongress. Viele übersehen sie zunächst zugunsten eloquenter Redner in teuren Anzügen. Als sie jedoch spricht, verblüfft sie alle mit der Tiefe und Originalität ihrer Gedanken. Die einfachsten Erkenntnisse, die sie teilt, erweisen sich als die wertvollsten – auch wenn viele sie zunächst für zu simpel halten.
Kapitel 71
Die Nichtwissenheit wissen
ist das Höchste.
Nicht wissen, was Wissen ist,
ist ein Leiden.
Nur wenn man unter diesem Leiden leidet,
wird man frei von Leiden.
Daß der Berufene nicht leidet,
kommt daher, daß er an diesem Leiden leidet;
darum leidet er nicht.
Zu wissen, dass man nicht alles weiß,
ist wahre Weisheit.
Nicht zu wissen, aber zu denken, man wüsste alles,
ist eine Krankheit.
Nur wenn man diese Krankheit als Krankheit erkennt,
kann man von ihr geheilt werden.
Der Weise leidet nicht an dieser Krankheit,
weil er sie als solche erkennt.
Deshalb leidet er nicht.
Grundgedanke: Das Eingestehen von Unwissenheit ist der Beginn wahrer Weisheit. Wer zu wissen glaubt, hört auf zu lernen.
Beispiel: Ein junger Arzt beginnt seine Karriere und ist überzeugt, alles über moderne Behandlungsmethoden zu wissen. Als ein komplizierter Fall auftaucht, besteht er auf seiner Diagnose, ignoriert Hinweise erfahrener Kollegen und macht einen Fehler. Diese Erfahrung lehrt ihn, seine Grenzen zu erkennen. Jahre später ist er ein angesehener Spezialist – gerade weil er nun bei jedem Patienten offen zugibt: „Ich muss noch mehr lernen“ und stets bereit ist, andere zu konsultieren.
Kapitel 72
Wenn die Leute das Schreckliche nicht fürchten,
dann kommt der große Schrecken.
Macht nicht eng ihre Wohnung
und nicht verdrießlich ihr Leben.
Denn nur dadurch, daß sie nicht in der Enge leben,
wird ihr Leben nicht verdrießlich.
Also auch der Berufene:
Er erkennt sich selbst, aber er will nicht scheinen.
Er liebt sich selbst, aber er sucht nicht Ehre für sich.
Er entfernt das andere und nimmt dieses.
Wenn die Menschen keine Angst mehr vor dem haben, was wirklich furchtbar ist,
wird etwas wirklich Furchtbares kommen.
Schränke die Menschen nicht ein
und mache ihr Leben nicht unerträglich.
Nur wenn sie nicht bedrängt werden,
werden sie nicht unzufrieden.
Der Weise:
Er kennt sich selbst, ohne sich zur Schau zu stellen.
Er respektiert sich selbst, ohne Anerkennung zu suchen.
Er wählt das Wesentliche und lässt das Unwesentliche.
Grundgedanke: Zu viel Druck und Einschränkung führt zu Rebellion. Selbsterkenntnis ohne Selbstdarstellung ist der bessere Weg.
Beispiel: Eltern eines Teenagers verbieten ihm ständig Dinge und überwachen jede Aktivität. Je mehr sie kontrollieren, desto mehr rebelliert er. In der Nachbarfamilie setzen die Eltern klare Grenzen, geben aber Freiraum und zeigen Interesse statt Kontrolle. Dieser Teenager entwickelt Selbstverantwortung und teilt freiwillig mit seinen Eltern, was in seinem Leben passiert – ohne den Drang zur Rebellion.
Kapitel 73
Wer Mut zeigt in Waghalsigkeiten,
der kommt um.
Wer Mut zeigt, ohne waghalsig zu sein,
der bleibt am Leben.
Von diesen beiden hat die eine Art Gewinn,
die andre Schaden.
Wer aber weiß den Grund davon,
daß der Himmel einen haßt?
Also auch der Berufene:
Er sieht die Schwierigkeiten.
Des Himmels Sinn streitet nicht
und ist doch gut im Siegen.
Er redet nicht
und findet doch gute Antwort.
Er winkt nicht,
und es kommt doch alles von selbst.
Er ist gelassen
und ist doch gut im Planen.
Des Himmels Netz ist ganz weitmaschig,
aber es verliert nichts.
Wer mutig ist durch Leichtsinn,
findet den Tod.
Wer mutig ist mit Vorsicht,
bleibt am Leben.
Von diesen beiden Arten von Mut
bringt die eine Nutzen, die andere Schaden.
Warum das Schicksal manche Menschen ablehnt,
wer kann das wissen?
Der Weise erkennt die Schwierigkeiten an.
Der Weg des Himmels
kämpft nicht und siegt trotzdem.
Er spricht nicht
und bekommt doch Antwort.
Er ruft nicht,
und doch kommt alles zu ihm.
Er plant gelassen
und alles fügt sich gut.
Das Netz des Himmels ist weitmaschig,
aber nichts entgeht ihm.
Grundgedanke: Rücksichtsloser Mut führt ins Verderben; vernünftige Vorsicht erhält das Leben. Der Weg des Himmels siegt ohne Kampf.
Beispiel: Zwei Bergsteiger wollen einen Gipfel erreichen. Der erste ignoriert Wetterwarnungen und steigt weiter, obwohl ein Sturm aufzieht – er muss später gerettet werden. Der zweite entscheidet sich umzukehren und den Berg an einem besseren Tag zu besteigen. Seinen Gipfel erreicht er eine Woche später bei guten Bedingungen, während der erste mit Erfrierungen im Krankenhaus liegt. Wagemut ohne Vorsicht brachte Schaden, geduldige Klugheit führte zum Ziel.
Kapitel 74
Wenn die Leute den Tod nicht scheuen,
wie will man sie denn mit dem Tode einschüchtern?
Wenn ich aber die Leute
beständig in Furcht vor dem Tode halte,
und wenn einer Wunderliches treibt,
soll ich ihn ergreifen und töten?
Wer traut sich das?
Es gibt immer eine Todesmacht, die tötet.
Anstelle dieser Todesmacht zu töten, das ist,
wie wenn man anstelle eines Zimmermanns
die Axt führen wollte.
Wer statt des Zimmermanns
die Axt führen wollte,
kommt selten davon,
ohne daß er sich die Hand verletzt.
Wenn die Menschen den Tod nicht fürchten,
wie willst du sie dann mit dem Tod bedrohen?
Wenn die Menschen den natürlichen Tod wirklich fürchten würden,
und jemand Außergewöhnliches täte,
könnten wir ihn fangen und hinrichten.
Aber wer würde das wagen?
Es gibt immer einen natürlichen Vollstrecker des Todes.
Diesen zu ersetzen wäre,
als wollte man die Axt des Zimmermanns
selbst führen.
Wer die Axt des Zimmermanns
selbst führen will,
verletzt sich meist
die eigene Hand.
Grundgedanke: Angst vor dem Tod ist kein wirksames Mittel zur Kontrolle. Strafe anzudrohen ist keine nachhaltige Regierungsmethode.
Beispiel: Ein Unternehmen kämpft mit Qualitätsproblemen und führt drakonische Strafen für Fehler ein: Gehaltskürzungen und Entlassungsdrohungen. Die Mitarbeiter melden Probleme nicht mehr, sondern vertuschen sie aus Angst. In einem anderen Unternehmen wird eine fehlerfreundliche Kultur etabliert, in der Probleme frühzeitig angesprochen werden können, ohne Konsequenzen fürchten zu müssen. Die Qualität verbessert sich stetig, während das erste Unternehmen weiterhin mit versteckten Mängeln kämpft.
Kapitel 75
Daß das Volk hungert,
kommt davon her,
daß seine Oberen zu viele Steuern fressen;
darum hungert es.
Daß das Volk schwer zu leiten ist,
kommt davon her,
daß seine Oberen zu viel machen;
darum ist es schwer zu leiten.
Daß das Volk den Tod zu leicht nimmt,
kommt davon her,
daß seine Oberen des Lebens Fülle zu reichlich suchen;
darum nimmt es den Tod zu leicht.
Wer aber nicht um des Lebens Willen handelt,
der ist besser als der, dem das Leben teuer ist.
Wenn Menschen hungern,
liegt es daran,
dass ihre Herrschenden zu viele Steuern erheben;
deshalb hungern sie.
Wenn Menschen schwer zu regieren sind,
liegt es daran,
dass ihre Herrschenden zu viel eingreifen;
deshalb sind sie schwer zu regieren.
Wenn Menschen den Tod gleichgültig hinnehmen,
liegt es daran,
dass ihre Herrschenden zu gierig nach Luxus sind;
deshalb nehmen sie den Tod gleichgültig hin.
Wer nicht für materielle Dinge lebt,
ist weiser als jemand, dem Reichtum wichtig ist.
Grundgedanke: Wenn Führungskräfte zu gierig und kontrollierend sind, leiden die Menschen und werden schwer zu regieren.
Beispiel: In einer Abteilung kürzt ein neuer Manager die Budgets, erhöht die Arbeitslast und streicht Annehmlichkeiten, um seine eigenen Bonusziele zu erreichen. Die Mitarbeiter werden unzufrieden, die besten kündigen, und die Produktivität sinkt. In einer anderen Abteilung sorgt die Leiterin für faire Arbeitsbedingungen und teilt Erfolge mit dem Team. Ihre Abteilung floriert, während die erste in einer Abwärtsspirale gefangen ist.
Kapitel 76
Der Mensch, wenn er ins Leben tritt,
ist weich und schwach,
und wenn er stirbt,
so ist er hart und stark.
Die Pflanzen, wenn sie ins Leben treten,
sind weich und zart,
und wenn sie sterben,
sind sie dürr und starr.
Darum sind die Harten und Starken
Gesellen des Todes,
die Weichen und Schwachen
Gesellen des Lebens.
Darum:
Sind die Waffen stark, so siegen sie nicht.
Sind die Bäume stark, so werden sie gefällt.
Das Starke und Große ist unten.
Das Weiche und Schwache ist oben.
Ein Mensch ist bei der Geburt
weich und biegsam,
im Tod jedoch
hart und steif.
Pflanzen sind beim Wachsen
weich und saftig,
im Tod jedoch
trocken und spröde.
Daher sind Härte und Steifheit
Begleiter des Todes,
Weichheit und Flexibilität
Begleiter des Lebens.
Deshalb:
Eine starre Armee wird nicht siegen.
Ein starrer Baum wird brechen.
Das Starre und Harte steht unten.
Das Weiche und Anpassungsfähige steht oben.
Grundgedanke: Flexibilität und Anpassungsfähigkeit sind Zeichen von Leben und Stärke. Starrheit führt zum Bruch.
Beispiel: Zwei Bäume stehen in einem Sturm. Die Eiche mit ihrem harten, unbeugsamen Stamm bricht schließlich im Wind. Die Weide daneben biegt sich, gibt nach und richtet sich immer wieder auf – und übersteht den Sturm unbeschadet. So geht es auch zwei Unternehmen in einer Wirtschaftskrise: Das unflexible mit starren Strukturen geht unter, während das anpassungsfähige überlebt und sich erholt.
Kapitel 77
Des Himmels Sinn, wie gleicht er dem Bogenspanner!
Das Hohe drückt er nieder,
das Tiefe erhöht er.
Was zuviel hat, verringert er,
was nicht genug hat, ergänzt er.
Des Himmels Sinn ist es,
was zuviel hat, zu verringern, was nicht genug hat, zu ergänzen.
Des Menschen Sinn ist nicht also.
Er verringert, was nicht genug hat,
um es darzubringen dem, das zuviel hat.
Wer aber ist imstande, das,
was er zuviel hat, der Welt darzubringen?
Nur der, so den Sinn hat.
Also auch der Berufene:
Erwirkt und behält nicht.
Ist das Werk vollbracht, so verharrt er nicht dabei.
Er wünscht nicht, seine Bedeutung vor ändern zu zeigen.
Der Weg des Himmels gleicht einem Bogenschützen:
Er zieht das Hohe herunter,
er hebt das Niedrige empor.
Er nimmt von dem, was zu viel hat,
und gibt dem, was zu wenig hat.
Der Weg des Himmels ist,
Überfluss zu verringern und Mangel auszugleichen.
Der Weg des Menschen ist anders.
Er nimmt von denen, die zu wenig haben,
um es denen zu geben, die bereits zu viel haben.
Wer aber ist bereit, seinen Überfluss
mit der Welt zu teilen?
Nur der, der den natürlichen Weg versteht.
Der Weise:
Er wirkt, ohne Besitz anzuhäufen.
Er vollendet sein Werk, ohne dabei zu verweilen.
Er sucht nicht, seine Bedeutung zu zeigen.
Grundgedanke: Der Weg des Himmels ist Ausgleich – nehmen, wo zu viel ist, und geben, wo zu wenig ist. Menschen machen oft das Gegenteil.
Beispiel: Zwei Nachbarländer: In einem werden die Reichen immer reicher durch Steuererleichterungen, während die Armen immer weniger haben. Im anderen gibt es ein ausgewogenes Steuersystem, das extreme Armut verhindert und gleichzeitig Leistung belohnt. Das erste Land erlebt soziale Unruhen und wirtschaftliche Instabilität, während das zweite stabiler und letztlich erfolgreicher ist.
Kapitel 78
Auf der ganzen Welt
gibt es nichts Weicheres und Schwächeres als das Wasser.
Und doch in der Art, wie es dem Harten zusetzt,
kommt nichts ihm gleich.
Es kann durch nichts verändert werden.
Daß Schwaches das Starke besiegt
und Weiches das Harte besiegt,
weiß jedermann auf Erden,
aber niemand vermag danach zu handeln.
Also auch hat ein Berufener gesagt:
»Wer den Schmutz des Reiches auf sich nimmt,
der ist der Herr bei Erdopfern.
Wer das Unglück des Reiches auf sich nimmt,
der ist der König der Welt.«
Wahre Worte sind wie umgekehrt.
Nichts auf der Welt
ist weicher und nachgiebiger als Wasser.
Doch nichts übertrifft es
im Bezwingen des Harten und Starken.
Es ist durch nichts zu ersetzen.
Dass das Schwache das Starke besiegt
und das Weiche das Harte überwindet,
weiß jeder auf der Welt,
doch kaum jemand kann danach handeln.
Deshalb sagte ein Weiser:
„Wer die Probleme eines Landes auf sich nimmt,
der ist ein würdiger Anführer.
Wer das Leid eines Volkes auf sich nimmt,
der kann die Welt regieren.“
Wahre Worte erscheinen oft paradox.
Grundgedanke: Das scheinbar Schwache (wie Wasser) kann stärker sein als das offensichtlich Starke. Wahre Führung bedeutet, auch Lasten zu tragen.
Beispiel: Ein neuer Abteilungsleiter mit sanfter Stimme und zurückhaltendem Auftreten wird anfangs belächelt. Statt mit Autorität zu prahlen, hört er zu, unterstützt sein Team bei Problemen und übernimmt Verantwortung bei Fehlschlägen. Wie Wasser, das stetig Felsen aushöhlt, gewinnt er langsam aber sicher das Vertrauen aller. Nach einem Jahr hat er die produktivste Abteilung im Unternehmen – nicht durch Härte, sondern durch beharrliche Güte und Unterstützung.
Kapitel 79
Versöhnt man großen Groll,
und es bleibt noch Groll übrig,
wie wäre das gut?
Darum hält der Berufene sich an seine Pflicht
und verlangt nichts von anderen.
Darum: Wer Leben hat,
hält sich an seine Pflicht,
wer kein Leben hat,
hält sich an sein Recht.
Wenn man einen großen Streit beilegt
und Groll zurückbleibt,
wie kann das gut sein?
Daher erfüllt der Weise seinen Teil der Abmachung
und verlangt nicht von anderen, dass sie zahlen.
Die tugendhaften Menschen achten auf ihre Verpflichtungen,
die tugendhaften Menschen bestehen nicht auf ihrem Recht.
Grundgedanke: Nach einem Konflikt ist es besser, Frieden zu schließen ohne nachzutragen, als auf sein Recht zu bestehen.
Beispiel: Nach einer heftigen Auseinandersetzung mit einem Kunden könnte ein Geschäftsinhaber auf seinem Recht bestehen und auf eine Entschuldigung pochen. Stattdessen bietet er eine Lösung an, ohne den Kunden zu beschuldigen. Diese versöhnliche Haltung führt nicht nur dazu, dass der Kunde bleibt, sondern dass er das Geschäft sogar bei Freunden empfiehlt, beeindruckt von der fairen Behandlung.
Kapitel 80
Ein Land mag klein sein
und seine Bewohner wenig.
Geräte, die der Menschen Kraft vervielfältigen,
lasse man nicht gebrauchen.
Man lasse das Volk den Tod wichtig nehmen
und nicht in die Ferne reisen.
Ob auch Schiffe und Wagen vorhanden wären,
sei niemand, der darin fahre.
Ob auch Panzer und Waffen da wären,
sei niemand, der sie entfalte.
Man lasse das Volk wieder Stricke knoten
und sie gebrauchen statt der Schrift.
Mach süß seine Speise
und schön seine Kleidung,
friedlich seine Wohnung
und fröhlich seine Sitten.
Nachbarländer mögen in Sehweite liegen,
daß man den Ruf der Hähne und Hunde
gegenseitig hören kann:
und doch sollen die Leute im höchsten Alter sterben,
ohne hin und her gereist zu sein.
Ein ideales Land mag klein sein
mit wenigen Einwohnern.
Maschinen, die menschliche Arbeit ersetzen,
werden dort wenig genutzt.
Die Menschen nehmen das Leben ernst
und reisen nicht weit.
Auch wenn es Transportmittel gibt,
besteht kein Bedarf, sie zu benutzen.
Auch wenn es Waffen gibt,
gibt es keinen Anlass, sie einzusetzen.
Die Menschen kehren zurück zu einfachen Methoden
und nutzen keine komplizierte Technik.
Sie genießen ihre Nahrung,
schätzen ihre Kleidung,
sind zufrieden mit ihrer Wohnung
und pflegen ihre Traditionen.
Nachbarländer mögen so nah sein,
dass man Hähne krähen und Hunde bellen hört,
doch die Menschen werden alt und sterben,
ohne das Bedürfnis, dorthin zu reisen.
Grundgedanke: Ein einfaches Leben in einer überschaubaren Gemeinschaft kann glücklicher sein als ein technologisch fortgeschrittenes, aber hektisches Leben.
Beispiel: Eine Frau verlässt ihre stressige Karriere in der Großstadt, wo sie täglich im Stau steht, ständig erreichbar sein muss und kaum ihre Nachbarn kennt. Sie zieht in eine kleine Küstenstadt, arbeitet weniger aber erfüllender, baut Gemüse an und wird Teil einer Gemeinschaft, in der man sich gegenseitig hilft. Obwohl sie nun weniger Geld und Annehmlichkeiten hat, stellt sie fest, dass ihr Glück und ihre Lebenszufriedenheit deutlich gestiegen sind.
Kapitel 81
Wahre Worte sind nicht schön,
schöne Worte sind nicht wahr.
Tüchtigkeit überredet nicht,
Überredung ist nicht tüchtig.
Der Weise ist nicht gelehrt,
der Gelehrte ist nicht weise.
Der Berufene häuft keinen Besitz auf.
je mehr er für andere tut,
desto mehr besitzt er.
je mehr er anderen gibt,
desto mehr hat er.
Des Himmels Sinn ist fördern, ohne zu schaden.
Des Berufenen Sinn ist wirken, ohne zu streiten.
Wahre Worte sind nicht immer schön,
schöne Worte sind nicht immer wahr.
Gute Menschen argumentieren nicht,
wer argumentiert, ist nicht immer gut.
Weise Menschen sind nicht belesen,
belesene Menschen sind nicht immer weise.
Der Weise häuft keinen Besitz an.
Je mehr er für andere tut,
desto reicher wird er.
Je mehr er gibt,
desto mehr hat er.
Der Weg des Himmels nützt, ohne zu schaden.
Der Weg des Weisen ist handeln, ohne zu kämpfen.
Grundgedanke: Wahre Weisheit zeigt sich nicht in schönen Worten oder Gelehrsamkeit. Der Weise gibt und wird dadurch reicher.
Beispiel: Ein älterer Handwerker in einer Schreinerei spricht wenig und prahlt nie mit seinem Können. Während jüngere Kollegen über ihre Techniken diskutieren und Fachwissen demonstrieren, arbeitet er still und präzise. Er teilt sein Wissen großzügig mit Lehrlingen, ohne etwas zurückzuerwarten. Am Ende des Tages sind seine Stücke die schönsten, und die Lehrlinge suchen seine Nähe statt die der beredteren Kollegen. Sein Geben hat ihn nicht ärmer, sondern reicher an Respekt und Erfüllung gemacht.
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